Mittwoch, 16. Juni 2010 von Karin S. Wozonig
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Veröffentlicht in 19. Jahrhundert,Literatur

Lyrische Gedichte, eine Gebrauchsanweisung, 2. Teil

Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, und was ist, und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?

Wer hat denn Muße, zu träumen, Muße, sich einzuspinnen in das Reich des schönen Scheins, und nun gar in das Reich lyrischer Empfindungen? Ist nicht Lyrik weiche, süßliche Kost, unwürdig eines zum praktischen, zum „politischen“ Leben und Denken erwachten Deutschen?

Es giebt eben immer noch Leute – und die Race wird nie aussterben -, welche, nicht zufrieden mit des Tages Treiben, mit Kämpfen und Ringen, über der realen Alltagswelt sich eine ideale Welt aufbauen müssen, welche ein Doppelleben führen …, ernst und streng und gewissenhaft ihrer praktischen Arbeit sich hingeben und dann in stillen, geweihten Stunden des Ausruhens dem Schönen alle ihre Herzenspforten öffnen, welche in der Morgenfrühe in den Wald hinauseilen, im Schatten der Bäume ruhen oder an die See aus der Enge der Stadt sich flüchten, an den murmelnden Wellen träumen oder in die großartige Einsamkeit der Bergesriesen emporstreben und zur Begleitung ein Büchlein mitnehmen, und zwar gerade ein Bändchen lyrischer Gedichte.

Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896

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