Mittwoch, 30. Juni 2010 von Karin S. Wozonig
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Veröffentlicht in 19. Jahrhundert,Literatur,Literaturwissenschaft

Lyrische Gedichte, eine Gebrauchsanweisung, 3. und letzter Teil

Oder: Ein Hinweis für den Ecocriticism

Denn wie soll ein lyrisches Gedicht genossen sein?
Man muß es mit innerer Sammlung anklingen lassen an die Saiten des Innern, auf daß diese mitklingen und nachzittern. Ist doch alles Verstehen auf dem Gebiete der Kunst ein Nachzeichnen, ein Miterleben, ein Sichhineinversetzen, Sichhineinfühlen!
Man soll nicht in Hast, wie es uns die Tagesberichte zur leidigen Gewohnheit machen, eins nach dem andern überfliegen oder verschlingen, sondern die Empfindungen müssen nachempfunden werden, müssen verschmelzen mit den unsrigen, auf daß allmählich die Gedichte innerer Besitz werden, wir immer und immer wieder gerne zu ihnen zurückkehren, daß immer mehr und mehr von unserem eigenen Erleben zwischen den Zeilen mittönt und immer neue ungeahnte Schönheit, wie ein liebliches, geheimnisvolles Wunder, sich uns erschließt. Und wie wonnig ist dies, wenn zugleich der Blick traumverloren durch den stillen Wald schweift, wo die Wipfel rauschen, nur hier und da eine Meise zirpt, ein Specht klopft oder in der Ferne eine Hohltaube ihr „gurrgurr“ erhebt, oder wenn die Möwen über die Wellen der See dahinflattern, um die Wette mit den huschenden, blinkenden Sonnenstrahlen!

Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896

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