Donnerstag, 3. August 2017 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli zur aktuellen Wetterlage (Wien)

Der Zustand […] läßt sich, was das Physische betrifft, mit keinem andern, in Bezug auf das Moralische etwa mit dem grauenvollen ersten Stadium der Seekrankheit vergleichen; dieselbe Indifferenz, dieselbe Stumpfheit tritt ein, das Herz weiß nichts mehr was das Auge sieht […] der Scirocco entwaffnet den Gegner ehe noch der Kampf beginnt, er verwandelt deine Nerven in abgewirbelte Saiten und dein Gehirn in eine siedende Masse von nicht mehr zu bestimmender Substanz, er lähmt die Elasticität deiner Sehnen und macht dein sonst so rasch durch die Adern rollendes Blut stocken […]
Solche Siroccotage sind peinlicher als sich ausdrücken läßt. Müde, verdrossen, zerschlagen, verläßt man am Morgen sein Bett, man findet, wie Hamlet, das Leben des Aus- und Anziehens nicht werth, und an allen Gliedern gelähmt, braucht man in der That zwei Stunden, um dies große Werk zu Stande zu bringen. Endlich ist es vollbracht. Nun will man sich beschäftigen, etwa einen Brief schreiben; da findet sich’s, daß die Tinte vertrocknet, das Papier feucht und in unserm Gedankenstrom die trostloseste Ebbe eingetreten ist. Man kennt weder Freund noch Feind mehr, der Haß und unsere Liebe lassen matt wie kranke Vögel die Flügel hängen. Vor Allem sollte man aber in solchem Zustand keinen Geschäftsbrief schreiben, denn bei dieser Gleichgiltigkeit für die ganze Welt, unsere werthe Person miteinbegriffen, wie vermöchte man da seinen Vortheil zu wahren? – Wenn es hoch kommt bringt man es dahin eine Seite mit langweiligem Unsinn zu füllen, dann wirft man, sich selbst verachtend die Feder weg. Da es mit dem Schreiben doch nicht geht, will man es mit dem Lesen versuchen. Wehe dem unglücklichen Autor, dessen Werk in unsere Hände fällt! Seine Kraft wird uns für Roheit, seine Grazie für Geziertheit gelten, wir werden uns über seinen Scherz ärgern und über seinen Ernst mitleidig die Achseln zucken …

Betty Paoli: Reisememoiretten, Lloyd 1852

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