(Vorlesung) Herr Lewinsky versammelte, wie seit einer Reihe von Jahren regelmäßig in der Fastenzeit, auch heuer an einem Abende (Donnerstag) ein zahlreiches gebildetes Publicum im Musikvereinssaale, um demselben neuere Dichtungen zu recitiren. Für diesmal hatte er lyrische und erzählende Gedichte von Betty Paoli gewählt, deren Mehrzahl noch ungedruckt ist. […] Ob es gerathen war, nur Stücke und zwar so viele desselben Autors zu wählen, darüber allerdings ließe sich reden; gegen Ende der beinahe drei Stunden währenden Vorlesung war eine gewisse Abspannung der Zuhörer nicht zu verkennen.
Wiener Zeitung, 14. März 1869
Aufmerksamkeitsspanne
Emilie Zanini
Um nicht für ihr unweibliches öffentliches Auftreten kritisiert zu werden, publizierten viele Frauen im neunzehnten Jahrhundert anonym, unter (männlichem) Pseudonym, zeichneten ihre Texte nur mit Chiffren oder Initialen. Für die Literaturgeschichtsschreibung sind sie deshalb fast verloren. Lexikonprojekte wie das zitierte von Carl von Schindel oder das Lexikon deutscher Frauen der Feder von Sophie Pataky (1898) versuchen, Abhilfe zu schaffen, die Frauengeschichtsforschung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat viel Material gesammelt. Aber die Lücken bleiben trotzdem groß.
Emmy., Emmy… oder Emmy*** ist das Pseudonym, unter dem Emilie Zanini Charaden, also gereimte Silbenrätsel, in Zeitschriften und literarischen Taschenbüchern veröffentlichte, unter anderem in einer Rubrik mit dem Titel „Nüsse zum Aufknacken für schöne Zähne“. Eine Sammlung ihrer Novellen und Verserzählungen wurde 1834 unter dem Titel Märzveilchen bei Tendler in Wien herausgegeben.
War er’s? Oder war er’s nicht?
Ich hatte das große Vergnügen, bei der Summer School der „Kommission für Interdisziplinäre Schubert Forschung“, kurz Schubert Research Center, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mitzuwirken. Das Überthema war gut gewählt: „Sexuality and Gender in Schubert’s Time“. Da lässt sich allerhand darüber sagen. Anke Charton hat den Teilnehmenden „Historicizing Gender“ nähergebracht, Mark Seow „Performing Queerness“ und Waltraud Schütz „Gender Norms“.
Ich habe mich auf die Liebeslyrik verlegt und über die Hintergründe der Ambivalenz gesprochen, die in jedem guten Biedermeiergedicht zu finden ist, und über die Geschlechterrollen, die hier abgebildet, eingeübt oder unterlaufen werden. Sex kam auch vor.
Es ist ja nicht so, dass ich über die Liebeslyrik von, sagen wir, Betty Paoli nicht schon einiges wüsste – Eduard Mörike war auch Thema (das war der mit dem Sex), Heinrich Heine natürlich, und Wilhelm Müller, selbstverständlich auch die geniale Annette von Droste-Hülshoff und außerdem Gabriele Baumberg -, aber: Wenn man einer Gruppe von fünfzehn Menschen, die unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen betreiben, unterschiedlich viel Lebenserfahrung haben und aus unterschiedlichen Ländern kommen, ein Gedicht in die Hand gibt, tun sich ganz neue Bedeutungen auf, zumal bei einer Gruppe wie jener der Summer School, in der auf hohem Niveau über die sprachlichen Mittel für den Gefühlsausdruck diskutiert wurde.
Auch eine Summer School braucht ein Rahmenprogramm, und so kam ich in den Genuss einer kleinen, beeindruckenden Schubertiade mit Irma Niskanen und Joonas Ahonen – wie passend für diese wissenschaftlich-künstlerische Zusammenkunft im Herzen von Wien, angeregt und mit Hingabe organisiert von Andrea Lindmayr-Brandl.
Den ersten Input dieser Sommerakademie lieferte Hans-Joachim Hinrichsen mit seiner Session über „Schubert’s Sexuality“. Und wenn ich das richtig sehe, waren sich am Ende alle einig, dass es nicht wichtig ist, ob Schubert schwul war oder nicht, dass es aber sehr wichtig ist, ob wir diese Frage stellen und wie wir sie stellen. Der Ton macht die Musik.
Lied an das Beerchen
Nun ist es Zeit
Nun ist es Zeit!
Die Schwalbe pickt ans Fensterglas,
Es sprießt empor das junge Gras,
Vom Eise ist der Fluß befreit,
Nun ist es Zeit, nun ist es Zeit!
Nun ist es Zeit!
Hervor ihr Blümlein roth und blau,
Hervor ihr Veilchen auf der Au,
Hervor in eurem schönsten Kleid,
Nun ist es Zeit, nun ist es Zeit.
Nun ist es Zeit!
Ihr Vöglein über’m blauen Meer,
Du Nachtigall, nur rasch hieher,
Schon schwillt das Beerchen auf der Haid,
Nun ist es Zeit, nun ist es Zeit.
Nun ist es Zeit!
Nun Frühling auf! mit aller Macht,
Mit Sang und Klang und Blüthenpracht,
Mit deiner höchsten Seligkeit,
Nun ist es Zeit, nun ist es Zeit.
Aus „Frühlingsblätter“. Liederkranz von Johann N. Vogl, erschienen in Vesta. Taschenbuch für das Jahr 1835, dem Almanach, in dem auch das vorstehende Frühlingsgedicht Grillparzers abgedruckt wurde.
Höchste Zeit für ein Frühlingsgedicht
Frühlings Kommen
Der Wächter auf den Zinnen
Treibt gar gewaltgen Spuk.
Sieht er wohl Gäste kommen?
Er schreit: »Guck, guck! Guckguck!«
Ein Diener auf sein Rufen
Herum im Hause geht,
Der nimmt die weißen Hüllen
Vom schimmernden Gerät.
Ein andrer breitet Teppich,
Milchfarb und rosenrot;
Baumwollen das Gewebe:
Der Baum die Wolle bot.
Drauf kommen Musikanten,
Sie stimmen, proben nie,
Und doch, kommts nun zum Spielen,
Wie herrlich stimmen sie.
Ein Vorhang, rot von Seide,
Fliegt weichend von der Tür,
Der Pförtner, golden schimmernd,
Kommt öffnend draus herfür.
Halb zieht er nur den Vorhang,
Daß Tag und Dunkel gleich,
Da tritt herein der Fremdling,
Ein König in sein Reich.
Was Augen hat, schließt auf sie,
Im Garten Haupt an Haupt,
Am Raine schiebt und drängt sichs,
Die Gänge stehn umlaubt.
Am Tor auch pochts des Herzens.
Willst hier auch freien Lauf?
Nun, bringst du schöne Lieder,
So mach ich dir wohl auf.
Franz Grillparzer
Muster deutscher Redekünste – Vorwort
Seit den letzten Dezennien erfreut sich die deutsche Literatur einer besonderen Würdigung und Gunst in allen Ständen. Lesebücher, Sammlungen, Anthologien u. dgl. werden an allen öffentlichen und Privatschulen in Deutschland eingeführt und mit der Jugend gelesen. Dies und insbesondere der Mangel einer den ganzen Umfang der Redekünste umfassenden Sammlung hat mich bestimmt, eine Ausgabe von Mustern deutscher Redekünste mit besonderer Rücksicht auf neuere Literatur zu veranstalten, die zugleich den Verhältnissen unserer vaterländischen Jugend angemessen wäre; wobei ich zuvörderst die Bildung des jugendlichen Gefühls für alles Wahre, Schöne und Gute, zunächst aber die Kenntniß der Redekünste nach ihren mannigfaltigen Formen bei der Jugend zu befördern beabsichtige, um dieselbe durch Ausbildung des Geschmacks zu überzeugen, daß Versemachen nicht schon Poesie sei, und daß ein gewöhnlicher prosaischer Aufsatz, korrekt geschrieben, oft mehr Bildung benöthige, als es die Jugend zu denken gewohnt ist.
Möge der Jüngling immerhin seinen Geschmack an Dichtern bilden, nur soll sich keiner, dem einige Verse gelingen, für berufen halten, dieselben sogleich der Nachwelt übermachen zu müssen.
Die Menge der Dichterlinge und ihrer Produkte war es eben, welche die Poesie so in Miskredit gebracht hat, daß die jüngere Schwester mit ihrem hellstralenden Haupte nur mit Mühe aus diesem Schwalle emportauchen konnte. […]
Muster deutscher Redekünste mit besonderer Rücksicht auf neuere Literatur zur Bildung des Geschmacks und des Stils. Herausgegeben von Wilhelm Podlaha, Wien 1842.
Falscher Frühling gereimt
Ich habe in diesem Blog gelegentlich etwas über Biedermeieralmanache geschrieben, diese interessanten Verlagsprodukte, bebildert, mit Musikbeilagen versehen, im dekorativen Samteinband oder – wohlfeil – mit geprägter Vignette, die sich unter den Auspizien der vormärzlichen Zensur und rigider Moralvorstellungen an oberflächlich gebildete, tugendhafte Mädchen und Frauen von bürgerlichem Stand wandten.
Ja, es lässt sich in solchen literarischen Taschenbüchern so mancher Fund machen, es gibt darin manchmal Texte, die nicht ins Klischee passen. Häufiger aber ist das Reimgeklingel.
Bei aller meteorologischen und botanischen Korrektheit: Vom prosodischen Standpunkt aus betrachtet ist die Kombination von Almanach und Frühling echt die Härte. Beispiel gefällig? Franz Fitzinger, 1842:
Falscher Frühling
Schneebedeckt noch war die Flur,
Blätterlos die Bäume,
Noch im Schooße der Natur
Schlummerten die Keime.
Doch im eisig kalten März
Weht es warm ein Weilchen;
Sieh, da hebt sich himmelwärts
Aus der Erd‘ ein Veilchen.
Und beklommen sieht es da
Weite Schneegefilde;
Doch, es weh’n die Lüfte ja
Schmeichelnd, sanft und milde!
Mit dem Hauche neigt‘ es sich
Kosend auf und nieder,
Bis – gar bald – die Wärme wich;
Winter ward es wieder!
Jenes Weiß, kein Blütenschnee,
Lenzhauch ohne Dauer;
Ach! dem Veilchen wird so weh,
Senkt das Haupt in Trauer.
Und so welkt‘ es schnell dahin,
Sterbend, kaum geboren;
„Warmer Hauch mit kaltem Sinn,
Bin durch dich verloren!“
„Unbeständige Natur,
Schnellverglühte Triebe!
Ach, es hat der Frühling nur
Warmen Hauch der Liebe!“
Betty Paoli rezensiert Gedichte – oder auch nicht
„Zehn Bände Gedichte liegen vor uns. Zehn Bände! Du brauchst aber deshalb nicht zu erschrecken, lieber Leser; es fällt uns nicht im Traume ein, dir über diese ganze Bibliothek zu referiren. Von den erwähnten zehn Bänden stehen sieben so tief unter der Mittelmäßigkeit, daß die Kritik nicht mehr mit ihnen zu schaffen hat, wie mit dem Gequake der Frösche, deren lyrischer Drang sich an schönen Sommerabenden Luft macht. Weil wir aber nicht fordern können, daß du uns dies auf’s Wort glaubest, wollen wir unsere Behauptung mit einigen Citaten unterstützen. Hast du an diesen nicht genug und forderst dann noch eine gründliche Analyse des Ganzen, so soll dir werden, was du verdienst. Thörichtes Verlangen wird am härtesten dadurch bestraft, daß man es gewährt. Vorläufig erfreu dich an den folgenden Citaten.
Herr Carl Ludwig Blum singt (Seite 46) in dem „Lied einer Wahnsinnigen“:
„Holofernes und David und Salomon,
Diese drei Weisen, die wußten es schon!
Adam und Eva hat’s Lieben erdacht,
Ich mit mein’m (!!!) Schätzel hab’s auch so gemacht.“
In einem andern „mit einer Mundtasse“ betitelten Gedicht heißt es:
„Sieh Mamachen diese Tasse
Und darin ist auch Kaffee!
Du verstehst dich auf dies Nasse
Mehr als ich auf’s ABC.“
Ehrlich gestanden ist uns Herr Blum unter dem poetischen Siebengestirn noch beiweitem der Liebste. Seine Verse sind nicht mittelmäßig, sie sind positiv schlecht; die Gedanken, die er vorbringt, sind nicht abgeblaßte Reflexe fremder Ideen, nein! sie glänzen durch selbstständige Absurdität, mit einem Wort, sein Buch hat einen ausgesprochenen Charakter, und es ließe sich daraus eine Blumenlese zusammenstellen, die im Verein mit kalten Waschungen, Bewegung im Freien und dem Gebrauch des Kissingerbrunnens zur Heilung manchen Hypochonders beitragen dürfte. Die andern sechs Bände sind nur langweilig…“
Betty Paoli: Bücherschau. In: Wiener Lloyd 15. Juni 1854 , S. 1-3.
Keine psychologische Erörterung zum Frauentag
Hieronymus Lorm: Meditationen über deutsche Lyrik, 1877:
Von der Untersuchung … schließe ich die Büchlein mit weiblichen Autornamen aus. … Edle Frauen mit genialen – Ansprüchen bedenken selten, daß ihr Ehrgeiz an zwei Tafeln zugleich schwelgen will, an der des moralischen wie an der des artistischen Ruhmes, daß aber die gute Meinung, die man einem Buch von ihnen entgegenbringt, von der anderen Seite die schlechtere Meinung ist, die man ihrer Persönlichkeit widmet, weil der Rang, den man der weiblichen Tugend und der Rang, den man der Kunst flicht, beinahe zwei einander ausschließende Sphären sind. Talent haben ist schon an sich eine Tragödie, setzt einen Zwiespalt, oft einen schuldvollen Bruch mit den normalen oder mindestens mit den herkömmlichen Gesetzen des Lebens theoretisch voraus und führt ihn praktisch herbei. Es bedarf weiter keiner psychologischen Erörterung, daß der Schauplatz für die höchsten dichterischen oder mimischen Darstellungen nicht das Gynaikeion sein kann.