Donnerstag, 8. November 2012 von Karin S. Wozonig
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Friederike Kempner und der Kanon

Vor einiger Zeit habe ich in diesem Blog die Mysterien von Parodie und unfreiwilliger Komik anhand des dankbaren Gegenstands der Kempnerschen Gedichte bedacht. Nun ist mir ein Aufsatz untergekommen, verfasst von der feministischen Literaturwissenschaftlerin Susanne Kord, der den vielversprechenden Titel „The Genius of Involuntary Humour: The Kempner-Effect and the Rules of Fiction“ trägt. (Oxford German Studies, 41.2)

Kord versucht Friederike Kempner als subversiv zu lesen. Sie vermutet bei Kempner eine (absichtliche) Lachgemeinschaft mit den Leserinnen und Lesern, Ausdruck von Solidarität mit allen verkannten Dichtern oder Karikaturen der „großen“, männlichen Literatur. Diese jeweiligen Kempner-Effekte (Kord spricht nur von einem) würden erzielt, unabhängig davon, ob Kempner das wollte oder nicht, unabhängig also davon, ob sie das Genie der unfreiwilligen Komik oder ihr poetisches Danebenhauen Absicht sei.

Das „Vergnügen“ an Kempners Gedichten sei, so Kord, sogar noch größer, wenn/da man nicht wisse ob die Dichterin den komischen Effekt erzielen wollte oder nicht. Die nicht ganz kohärenten Schlussfolgerungen Kords machen die Leserinnen und Leser zu Komplizen Kempners, die Kempner-Gedichte nur witzig finden, weil sie eine Vorstellung von „guter“ Literatur haben. Das ist sicher richtig – wären alle jemals geschriebenen deutschen Gedichte von Kempner-Qualität, wäre Kempner nicht besonders lustig. Was Kord nicht erwähnt: Kempner hatte auch eine Vorstellung von „guter“ Literatur und zählte in Kenntnis der Werke von Schiller, Goethe und Heine ihre eigene dazu.

Dienstag, 26. Juni 2012 von Karin S. Wozonig
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Gabriele Reuter lernt dichten

Der verschwurbelte Stil und der holprige Vers von Friederike Kempners Gedichten fordern zur Parodie auf. Das kann durchaus einen Lerneffekt und Auswirkungen auf das persönliche Leben haben, wie die Erfolgsautorin Gabriele Reuter zu erzählen weiß:

Der Abend bei Blombergs brachte uns nicht allein künstlerische und poetische Genüsse – er verschaffte uns auch die Bekanntschaft einer Dichterin von gänzlich anderer Art – die uns von nun an eine Quelle nicht endenwollenden Vergnügens wurde. Die göttliche Rieke! Friederike Kempner!

Wer weiß heute noch von ihr? Damals war sie einem Kreise intimer humoristischer Genießer bekannt – bis Paul Lindau sie entdeckte und eine Zeitlang ganz Deutschland von ihr redete und sie dann vergaß. Diese noch nicht dagewesene Mischung von höchstem Gedankenflug mit grotesken Vergleichen und trivialen Wendungen, dieser kindische Größenwahn, der sich echter Menschenliebe und dem feurigsten Eifer für die Leiden aller Unterdrückten verband, mußte auf Menschen, die das Leben vom Gesichtswinkel des Humoristen aus betrachteten und den tiefen Sinn für die hinter ihm lauernde Tragik besaßen, wie Elisabeth, geradezu erschütternd wirken. Sie konnte sich begeistern an Naturschilderungen mit dem immer wiederkehrenden Refrain:

O Röslein mein,
Mimöslein klein –
Und lustig hüpfendes Vögelein,

oder jene andere grandiosere:

Laßt mich in die Wüste laufen,
Wo die vierzig Palmen sind,
Wo die Dromedare saufen
Und die Quelle ewig rinnt,
Dort in jenen schatt’gen Räumen
Mit dem großen Geist allein
Will ich alle glücklich träumen
Und werd‘ selber glücklich sein!

Am nächsten Morgen schon wurde das Gedichtbändchen bestellt, das vorn das Bild der Dichterin zeigte, im karierten Rock, sinnig die Feder in der Hand haltend. Wir begannen fortan die Menschen einzuteilen in solche, die die göttliche Rieke verstanden, und in solche, die die Schätze, die sie bot, nicht zu würdigen wußten. Als mir einige neue Strophen ganz in Riekes überraschender Manier gelangen, hat dies Elisabeths Freundschaft zu mir mehr gefördert als mein jahrelanges stilles Werben.

Dienstag, 19. Juni 2012 von Karin S. Wozonig
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Die literarische Kempner

Bereits zwei Mal habe ich in diesem Blog Friederike Kempner zitiert, die Meisterin der unfreiwilligen Komik – sie wurde gelegentlich auch als der „schlesische Schwan“ bezeichnet. Nun ist ja die Literatur als solche ein großes Gewebe, in dem selten ein Fädchen ganz einsam bleibt. Irgend ein schreibender Mensch knüpft immer an schon Geschriebenes – und sei es noch so weit hergeholt – an. Die Literaturwissenschaft nennt das Intertextualität. Kempners Verse fordern zur Parodie heraus und vieles, was für ein echtes Kempner-Gedicht ausgegeben wird, stammt gar nicht von ihr. Frank Möbus, Herausgeber eines Kempner-Best-of-Buchs, analysiert, was die Nachahmung vom Original unterscheidet: der gute Wille, der den Parodien, die sich über Kempner oder über einen Gegenstand in Kempner-Manier lustig machen, fehlt. Kempners Gedichte sind immer gut gemeint.

„Methusalem“ macht sich 1885 in einem Band „Dichtergrüße an Friederike Kempner“ über die inhaltlichen, metrischen und metaphorischen Absonderlichkeiten von Kempner lustig. Zum besseren Verständnis gibt „Methusalem“ die Seitenzahlen aus Kempners Gedichtband (in der vierten Auflage) an, auf die sich seine Parodien beziehen – das ist Holzhammer. Viele „Pseudo-Kempneriana“ werden in Bezug auf die Subtilität des Witzes dem parodierten Vorbild nicht gerecht.

Dabei könnte man es auch so sehen, wie ein anonymer Rezensent der Kempnerschen Gedichte 1873:

„Bin unverzagt, ich hab’s gewagt und will des End’s erwarten!“ so ruft die Dichterin mit Ulrich v. Hutten, und bescheert den reichen Ertrag ihrer inspirirten Stunden uns trivialen Sterblichen, die wir wol wissen, was ein Messer ohne Klinge, an dem der Stiel fehlt, bedeutet, den poetischen Wundergängen jener Tropfen aus dem kastalischen Quell  aber nicht zu folgen vermögen.

Weitere intertextuelle Seiten von Friederike Kempner werde ich in den nächsten Tagen in diesem Blog aufdecken; oder umblättern.

Freitag, 11. Mai 2012 von Karin S. Wozonig
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Wissenskulturen

Ich freue mich darüber, dass in das aktuelle Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung ein Beitrag von mir über den komplexen Text „Zur Diätetik der Seele“ von Ernst von Feuchtersleben aufgenommen wurde. Ich danke den Herausgebern Gustav Frank und Madleen Podewski für diese Möglichkeit, an einer multiperspektivischen Behandlung der „Wissenskulturen des Vormärz“ mitzuwirken.

Je eingehender ich mich mit dem Biedermeier beschäftige, desto deutlicher überträgt sich die zeitgenössische Erschütterung aller Sicherheiten und die Problematik der Formulierung und Verfestigung neuer sozialer und ästhetischer Normen auf meine Erkenntnis. Und das meine ich im positiven Sinn.

Den Begriff „Biedermeier“ lerne ich immer mehr zu schätzen, einerseits als passenden Hinweis darauf, dass in der Zeit zwischen 1815 und 1848 das (Klein)Bürgertum zu einem relevanten kulturellen und politischen Faktor wurde, und andererseits, weil die weite Verbreitung der Bezeichnung das Ergebnis einer Paraodie ist. Einer ihrer Urheber ist Ludwig Eichrodt, der unter dem Pseudonym Rudolf Rodt unter anderem Gedichte mit dem Titel  „Dachstubenpoesie der Lenautiker“ und „Das Frauenauge und der elektromagnetische Telegraf“ verfasst hat. Sein Wanderlied beginnt mit den schönen Zeilen

Nach Italien, nach Italien!
Möcht ich, Alter, jetzt einmaligen!
Wo die Pomeranze wohnt…

Und dieses zu seiner Zeit durchaus populäre Gedicht, erschienen 1849 in den Fliegenden Blättern, enthält auch ein paar Strophen zum Sehnsuchtsland Kalifornien. Die erste davon lautet:

Aber jetzt! nach Kalifornigen
Jagt es mir den Sinn den zornigen,
Der schon längst dahin geschwärmt:
Wo die goldnen Adern ziehen,
Durch die schweigenden Prairieen,
Und der Sakramenter lärmt –
Dahin, Alter, laß mich ziehn!

Die nächsten Strophen liefere ich in den kommenden Tagen hier in diesem Blog.