Samstag, 2. April 2011 von Karin S. Wozonig
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Stifter erfindet eine Fürstin

In Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ finden wir die Beschreibung einer Fürstin und ihrer Vorleserin, in denen wir, wenn wir wollen, die Fürstin Maria Anna zu Schwarzenberg (geb. 1767, gestorben am 2. April 1848) und Betty Paoli erkennen können:

Es lebte eine alte, edle verwitwete Fürstin in unserer Stadt, deren zu früh verstorbener Gemahl den Oberbefehl in den letzten großen Kriegen geführt hatte. Sie war häufig mit ihm im Felde gewesen und hatte da die Verhältnisse von Kriegsheeren und ihren Bewegungen kennen gelernt, sie war in den größten Städten Europas gewesen und hatte die Bekanntschaft von Menschen gemacht, in deren Händen die ganzen Zustände des Weltteiles lagen, sie hatte das gelesen, was die hervorragendsten Männer und Frauen in Dichtungen, in betrachtenden Werken und zum Teile in Wissenschaften, die ihr zugänglich waren, geschrieben haben, und sie hatte alles Schöne genossen, was die Künste hervorbringen. … Weil aber, obwohl ihre Augen noch nicht so schwach waren, das viele Lesen, das sie sich hatte auflegen müssen, bei ihrem Alter doch hätte beschwerlich werden können, hatte sie eine Vorleserin, welche einen Teil, und zwar den größten, des Lesestoffes auf sich nahm und ihr vortrug. Diese Vorleserin war aber keine bloße Vorleserin, sondern vielmehr eine Gesellschafterin der Fürstin, die mit ihr über das Gelesene sprach, und die eine solche Bildung besaß, daß sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, so wie sie von diesem Geiste auch Nahrung empfing. Nach dem Urteile von Männern, die über solche Dinge sprechen können, war die Gesellschafterin von außerordentlicher Begabung, sie war im Stande, jedes Große in sich aufzunehmen und wieder zu geben, so wie ihre eigenen Hervorbringungen, zu denen sie sich zuweilen verleiten ließ, zu den beachtenswertesten der Zeit gehörten.

Nun ist die Darstellung der Wirklichkeit, vor allem real existierender Personen, in literarischen Texten aber eine komplizierte Angelegenheit. Man könnte sagen, die Fürstin und die Vorleserin in Stifters Roman haben nichts mit der Fürstin Maria Anna zu Schwarzenberg und der Dichterin Betty Paoli zu tun, und dass es nichts zur literarischen Sache tut, dass Stifter die Fürstin und Paoli gekannt hat. Ich möchte zu dieser Frage eine Erfindung Stifters, den Protagonisten der Erzählung „Nachkommenschaften“, zu Wort kommen lassen:

Freilich sagt man, es sei ein großer Fehler, wenn man zu wirklich das Wirkliche darstelle: man werde da trocken, handwerksmäßig, und zerstöre allen dichterischen Duft der Arbeit. Freier Schwung, freies Ermessen, freier Flug des Künstlers müsse da sein, dann entstehe ein freies, leichtes, dichterisches Werk. Sonst sei alles vergeblich und am Ende – das sagen die, welche die Wirklichkeit nicht darstellen können. Ich aber sage: warum hat denn Gott das Wirkliche gar so wirklich und am wirklichsten in seinem Kunstwerke gemacht, und in demselben doch den höchsten Schwung erreicht, den ihr auch mit all euren Schwingen nicht recht schwingen könnt? In der Welt und in ihren Teilen ist die größte dichterische Fülle und die herzergreifendste Gewalt. Macht nur die Wirklichkeit so wirklich wie sie ist, und verändert nicht den Schwung, der ohnehin in ihr ist, und ihr werdet wunderbarere Werke hervorbringen, als ihr glaubt, und als ihr tut, wenn ihr Afterheiten malt und sagt: Jetzt ist Schwung darinnen.

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