Fremdländische Blätter, deren Lieblingsbeschäftigung es von jeher war, der österreichischen Presse am Zeuge zu flicken, glossiren die Kritiken des Frln. Betti Paoli im Lloyd in mannigfaltiger Weise. So werden die Wendungen und Phrasen wie: „Wir sehen uns genöthigt,“ „Es bleibt uns nur noch übrig“ u. s. w sehr unpassend im Munde einer Dame, und zumal einer schwunghaften Dichterin gefunden…
Wiener Modespiegel: Wochenschrift für Mode, schöne Literatur, Novellistik, Kunst und Theater, 3. Februar 1853
Kritikerinnensprech
Empathischer Vortrag kritischer Texte
Beim zweiten Klassikaner-Abend zu Betty Paoli in der Wienbibliothek im Rathaus lieh die großartige Gerti Drassl der ersten Journalistin Österreichs und Kritikerin mit spitzer Feder ihre Stimme: hier nachzusehen und zu -hören
Über Verriss und Lob, Kritik und Geschäft sprachen Bettina Eibel-Steiner, Leiterin des „Spectrum“ der „Presse“, und Andrea Reisner, langjährige Redakteurin der „Zeitreisen“ der „Wiener Zeitung“, moderiert von Daniela Strigl – informativ und unterhaltsam.
Unbekanntschaft mit den Autorinnen
Im Jahr 1822 schickt Carl Wilhelm Otto August von Schindel dem ersten Band seines Lexikons „Die deutschen Schriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts“ eine Vorrede voran, in der er die Probleme beim Sammeln von Informationen über schreibende Frauen darlegt. Der Verfasser würde, wenn er „diese Schwierigkeiten anfangs in ihrer ganzen Größe vorausgesehen hätte, die Idee ganz aufgegeben haben“. Schindel bedankt sich bei jenen, die ihn mit biobibliographischen Daten versorgt haben, setzt aber hinzu, dass „mehrere Literaturkenner“, die ihm die „genügendsten Nachweisungen vielleicht gewähren konnten“, seine „Gesuche“ nicht erfüllt hätten, seine „sehr bescheidenen Bitten in Briefen und in öffentlichen Blättern, auch an Schriftstellerinnen selbst gerichtet, wurden durch Entschuldigungen mit überhäuften Geschäften erwidert, oder blieben wohl ganz ohne Antwort“.
Schreibende Frauen möchten anonym bleiben. Dafür hat Schindel in gewisser Weise Verständnis, argumentiert aber: „Die rühmliche Bescheidenheit, womit Schriftsteller ihre Werke ihren Zeitgenossen ohne Nennung ihres Namens übergeben, verdient alle Achtung, aber nicht leicht finden sich Männer, wenn sie von Literaturfreunden in ihren dahin einschlagenden Schriften mit ihrem Namen aufgeführt werden, beleidiget […]. Sollte aber vielleicht die Anonymität der Frauen nach andern Grundsätzen zu beurtheilen sein?“
Die Angst vor Angriffen durch Männer versteht Schindel, er will „die Schüchternheit vor den Vorurtheilen, welche unser Geschlecht, oft vielleicht aus Stolz, oft wenigstens zu allgemein, gegen weibliche Schriftstellerei hegt“, nicht tadeln. Auch erkennt er an, dass die Angst der Schriftstellerinnen vor den „Mißdeutungen“ durch den „schwesterlichen Verein“ berechtigt sind. Der „Geschichtsforscher“ aber sucht nach Aufklärung, und wer veröffentlicht, kann es dem Verfasser eines Literaturlexikons nicht untersagen, ihn mit Namen aufzuführen. Immerhin würde der sich andernfalls mit dem „Vorwurf der Unbekanntschaft mit der Literatur seiner Zeit“ konfrontiert sehen.
Es gibt also auch für die anonym oder pseudonym veröffentlichenden Schriftstellerinnen keinen Grund, wegen der Aufdeckung ihres Namens und den biographischen Skizzen im Lexikon beleidigt zu sein, denn „eine literarische Beschäftigung mag doch nie etwas Entehrendes sein“ – zumal die „weibliche Feder“ bekanntlich keinen Gegenstand wählt, „wovor Sittsamkeit und Tugend erröthen würde“.
Verriss: Lassen wir sie selbst sprechen
Wir haben es vorlängst ausgesprochen, daß die Kritik in gewissen Fällen dem Publicum als Warnungstafel zu dienen habe; als eine solche mag denn nun der Leser unsere Anzeige des neuen Romans von Auguste Linden: „Vier Lebenstage“ betrachten. […]
Die Verfasserin versteht es […], unserer Phantasie den Zauber eines nächtlichen Gartenfestes zu vergegenwärtigen. Lassen wir sie selbst sprechen: „Kleine Zelte, mit farbigen Seidengardinen drapirt und mit hellklingenden Glöckchen von Metall behangen, zogen sich unter den Pyramiden hin. Hier sollte die Musik spielen, die heute die frohen Tänze begleiten würden. (Bisher hatten wir geglaubt, daß die Musik den Tanz begleite; nun erfahren wir, daß es sich damit umgekehrt verhält. Und würden! O Auguste Linden!) Gruppen von seltenen Gewächsen standen in reichverzierten Töpfen da und bildeten halbverbergende künstliche Lauben für die plastischen Statuen, über denen sich wieder Bogen von farbigen Lampen wölbten.“
Plastische Statuen! Welche andere Statuen gibt es denn noch? Aber die Verfasserin ist consequent: keine irdische noch himmlische Macht würde sie bewegen, ein Hauptwort ohne die Begleitung eines Beiwortes in die Welt hinauszuschicken, und da sie das passende nicht immer, oder besser gesagt nie zu finden weiß, muß ihr auch das unpassendste dienen. […]
Ein Gerücht […] behauptet, die Verfasserin […] sei eine der höchsten Stände angehörende Dame. Wir betrachten dieses Gerücht als eine der empörendsten Anschuldigungen, die jemals vom Hasse der Demagogen ersonnen wurden, um die Aristokratie in Verruf zu bringen und den Leichtgläubigen vorzuspiegeln, welcher Unthaten man sich von Seiten des Adels versehen kann.“
Betty Paoli: Bücherschau. In: Wiener Lloyd 7. Juli 1853.
Betty Paoli rezensiert Gedichte – oder auch nicht
„Zehn Bände Gedichte liegen vor uns. Zehn Bände! Du brauchst aber deshalb nicht zu erschrecken, lieber Leser; es fällt uns nicht im Traume ein, dir über diese ganze Bibliothek zu referiren. Von den erwähnten zehn Bänden stehen sieben so tief unter der Mittelmäßigkeit, daß die Kritik nicht mehr mit ihnen zu schaffen hat, wie mit dem Gequake der Frösche, deren lyrischer Drang sich an schönen Sommerabenden Luft macht. Weil wir aber nicht fordern können, daß du uns dies auf’s Wort glaubest, wollen wir unsere Behauptung mit einigen Citaten unterstützen. Hast du an diesen nicht genug und forderst dann noch eine gründliche Analyse des Ganzen, so soll dir werden, was du verdienst. Thörichtes Verlangen wird am härtesten dadurch bestraft, daß man es gewährt. Vorläufig erfreu dich an den folgenden Citaten.
Herr Carl Ludwig Blum singt (Seite 46) in dem „Lied einer Wahnsinnigen“:
„Holofernes und David und Salomon,
Diese drei Weisen, die wußten es schon!
Adam und Eva hat’s Lieben erdacht,
Ich mit mein’m (!!!) Schätzel hab’s auch so gemacht.“
In einem andern „mit einer Mundtasse“ betitelten Gedicht heißt es:
„Sieh Mamachen diese Tasse
Und darin ist auch Kaffee!
Du verstehst dich auf dies Nasse
Mehr als ich auf’s ABC.“
Ehrlich gestanden ist uns Herr Blum unter dem poetischen Siebengestirn noch beiweitem der Liebste. Seine Verse sind nicht mittelmäßig, sie sind positiv schlecht; die Gedanken, die er vorbringt, sind nicht abgeblaßte Reflexe fremder Ideen, nein! sie glänzen durch selbstständige Absurdität, mit einem Wort, sein Buch hat einen ausgesprochenen Charakter, und es ließe sich daraus eine Blumenlese zusammenstellen, die im Verein mit kalten Waschungen, Bewegung im Freien und dem Gebrauch des Kissingerbrunnens zur Heilung manchen Hypochonders beitragen dürfte. Die andern sechs Bände sind nur langweilig…“
Betty Paoli: Bücherschau. In: Wiener Lloyd 15. Juni 1854 , S. 1-3.
Noch mehr Nützliches für Kritikerinnen
Schade! daß an die Stelle der schönen Erzählung in Briefen …, womit der vorige Jahrgang die Leser freundlichst begrüßte, heuer eine minder gelungene Novelle … treten mußte, der wir, ungeachtet des ihr anderwärts (Nro. 241 des „Humoristen“) ertheilten überschwenglichen Lobes, gar keinen Geschmack abzugewinnen vermochten. Dagegen stimmen wir den dort ausgesprochenen Bemerkungen über die zweite voluminöse Erzählung von Adalbert Stifter: „Feldblumen“ unbedingt bei, da wir sie ihrer Länge wegen gar nicht gelesen haben.
Mnemosyne. Galizisches Abendblatt für gebildete Leser, 1840
Nützliches für Kritikerinnen
Die buchhändlerische Anpreisung eines neuen Romans schließt mit den Worten: „Wir sind überzeugt, daß Jedermann mit Vergnügen dieß Buch aus der Hand legen wird.“
Mnemosyne. Galizisches Abendblatt für gebildete Leser, 1840
Adalbert Stifter mit Hut
Es soll Menschen geben, die jeden Sonntag Tatort schauen wie andere Columbo (mit oder ohne Pyjama). Und diese Menschen haben sich einige Zeit lang gefragt, warum das StifterHaus in Linz (bitte beachten Sie die schöne neue Website) Axel Milberg einlädt, um Briefe von Adalbert Stifter zu lesen. Ich hingegen bin ganz unvoreingenommen in den gestrigen Abend gegangen, denn ich habe keine Ahnung gehabt, wer Axel Milberg ist. Jetzt weiß ich es: Er ist ein Profi.
Nach einer schön kompakten und informativen Einleitung durch Petra Dallinger, Direktorin des Adalbert-Stifter-Instituts, hat Milberg dreizehn Briefe aus unterschiedlichen Lebensphasen Stifters gelesen und den Ton meiner Meinung nach dabei sehr gut getroffen. Natürlich kann man nur vermuten, wie es bei Stifter geklungen hätte, denn Stifter ist ja selbst eine Kunstfigur wie seine Kunstfiguren, auch wenn sie Betty Paoli und die Fürstin Schwarzenberg sein könnten. So wie wir alle Kunstfiguren sind, entweder aus eigenem Antrieb (Stichwort self-fashioning) oder weil uns andere ansehen, bei Stifter z.B. Literaturwissenschaftler. Dass Stifter uns quasi lebendig vor Augen getreten ist, war nicht nur Verdienst des Schauspielers, sondern lag auch daran, dass die Briefe sehr gut ausgewählt waren.
Der eine Brief von Stifter an Paoli war nicht dabei. Wieder einmal könnte ich die Frage aufwerfen, warum sich die beiden nach anfänglicher gegenseitiger Verehrung aus den Augen verloren haben. Wahrscheinlich war es der Freundschaft nicht zuträglich, dass Paoli in ihrer Funktion als einflussreiche Kritikerin Adalbert Stifter keine positive Besprechung seiner Werke gegönnt hat. Aber wenigstens auch keine negative. Jaja, so war sie.
Feministisch schauen im Museum
Apropos Frauentag: Vor kurzem habe ich – ich weiß nicht mehr wo und von wem; man liest ja so viel – eine Beschwerde darüber gelesen, dass die Kritik zu zahm sei. So ganz allgemein. Und dass nichts mehr richtig verrissen würde, sondern auch das für schlecht Befundene noch als „interessant“ bezeichnet würde. Stimmt. Ein bisschen hat das natürlich mit den nicht geringer gewordenen Abhängigkeiten der Kritikerinnen und Kritiker zu tun, noch mehr aber mit einer gewissen Dickhäutigkeit oder gar Gleichgültigkeit gegenüber nicht gerechtfertigter Beliebigkeit, die ein seltsames Erbe der sogenannten Postmoderne ist.
Unlängst habe ich das an mir selbst beobachtet. Ich war im Kunsthistorischen Museum in Wien. Dort laufen zur Zeit wieder Veranstaltungen der Ganymed-Reihe, des sehr löblichen Versuchs, Exponate zur Inspirationsquelle zu machen; explizit, denn implizit sind sie das ja wohl hoffentlich auch ohne Extra-Veranstaltung.
Diesmal geht es um – hier also die Verbindung zum Frauentag –„Ganymed Fe male“, um „eine literarische und musikalische Reise durch die Gemäldegalerie“ mit „feministischem Blick“. Die verheißungsvolle Ankündigung lautet:
Entdecken Sie die alten Meister neu, erleben Sie Kunst mit all Ihren Sinnen, verändern Sie Ihren Blick! Theater, Musik, Tanz und Performance laden Sie ein, in der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums das Heute im Gestern zu erforschen. Lassen Sie sich verführen und werden Sie Teil einer atemberaubenden Performance.
Das mit dem Teilwerden ist individuell regelbar. Mir wurde bei der Tanzperformance zu Der Selbstmord der Cleopatra von Guido Cagnacci die Hand aufgelegt, gegen eine Umarmung habe ich mich durch beidhändiges Festklammern an einer Sitzbank gewehrt; Ich glaube, ich bin nicht das ideale Publikum für derlei Erforschungen des Heute.
Wie auch immer: eine ganze Menge literarischer Texte hat Jacqueline Kornmüller für die Inszenierung gesammelt, von Milena Michiko Flašar (über Paar mit Spiegel von Hans von Aachen), Chimamanda Ngozi Adichie (über Mädchen im Pelz von Tizian), Anna Kim (über Die Entführung der Dina von Giuliano Bugiardini), Franz Schuh (über Maria Theresia mit der Statue des Friedens von Anton von Maron), Joanna Bator (über Das Pelzchen von Rubens), Zadie Smith (über Alte Frau von Balthasar Denner) und mehr. Die Texte werden von Schauspielerinnen und Schauspielern im Raum mit dem jeweils als Inspiration dienenden Bild vorgetragen.
Zusammenhänge zwischen den Bildern und den Texten bzw. ihrer Aufführung sind mehr oder weniger erkennbar. Aber insgesamt hat das nicht Hand, nicht Fuß. Und damit bin ich bei der nicht gerechtfertigten Beliebigkeit. Für das „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ des Direktors aus dem „Faust“ sind fünfzehn Stationen (literarisch, musikalisch [u.a. Die Strottern], tänzerisch) in einer sehr großen Bildergalerie zu wenig. Deshalb braucht das ganze ein Konzept, der feministische Blick ist aber keines. Zwischen plattem Manifest und Gewaltschilderung wird alles Mögliche verbraten, frei nach dem Motto „Ich mach was mit Frauen.“ Das reicht nicht. Oder höchstens für „interessant“.