Betty-Paoli-Lesung vor distinguiertem Publikum
Am 11. März 1869 veranstaltete der Hofschauspieler Josef Lewinsky eine Lesung mit Gedichten von Betty Paoli. Die Auswahl der Gedichte zeugt von Paolis breitem literarischem Interesse in den späteren Jahren ihres Schaffens. Nach drei sehr erfolgreichen Gedichtbänden in spätromantisch-weltschmerzlicher Tradition in den 1840er und 1850er Jahren wandte sie sich der schwierigen Kunst des Huldigungsgedichts, literarischen Übersetzungen (das unten erwähnte „Hochländische Kriegslied“ basiert auf einer Vorlage von Walter Scott) und der Ballade zu. Die in der Lesung vorgetragenen Gedichte wurden in Paolis Gedichtsammlung „Neueste Gedichte“ (Wien 1870) aufgenommen.
Zur Vorlesung der neuesten Gedichte Betty Paoli’s durch den Hofschauspieler J. Lewinsky hatte sich gestern Abends im Musikvereinssaale ein sehr zahlreiches und sehr distinguirtes Auditorium eingefunden. … Unter den zehn Sonetten zündeten besonders die beiden: „An Heinrich Anschütz“, „Unsere Zeit“, ein echt modernes, körniges Gedicht, und „Treue“. Ebenso fein gedacht als gelungen durchgeführt sind die zwei elegischen Dichtungen: „An Julie Rettich“, die einstens intimste Freundin der Dichterin. In der zweiten Abtheilung erregte das Gedicht: „Hochländisches Kriegslied“ durch seine lebhafte markige Schilderung einen solchen Beifallsturm, daß es wiederholt werden mußte. Gleicher Anerkennung hatten sich auch die übrigen Gedichte, insbesondere die drei epischen: „Rabbi Löw“ (talmudische Sage), „Nadara“ (indische Legende) und „Andreas Baumkircher“, ein historische Gedicht aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, zu erfreuen.
Die Presse, 13. März 1869