Mittwoch, 19. Oktober 2022 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: ,
Veröffentlicht in Literatur,Welt | Keine Kommentare

Literarische Nachleucht-Farbe

Thomas Stangl hat einen Glow-in-the-dark-Roman geschrieben. Ja, das Cover leuchtet in der Dunkelheit – Matthes & Seitz macht’s möglich. Außerdem bleibt aber auch vieles des Inhalts dunkel und aus diesem Dunkel leuchten einzelne Erzählstränge hervor, die den Großmüttern des Autors, der Familie Brontë und dem Kaiser von China, dem sprichwörtlichen, folgen.

Keine Zeile lang vertraut Thomas Stangl dem „So tun als ob“, das die Grundvoraussetzung der Romanlektüre ist. Oder war. Seit einiger Zeit sickern und bröseln in die Literatur die Konzepte Identitätserschütterung und kulturelle Aneignung hinein, beides nur mit nichtfiktionaler Authentizität zu haben. Für manche gilt: Da kann man gleich Autofiktion schreiben. Thomas Stangl macht es anders und mischt sich als Autor mit Skrupeln ein: Der Kaiser von China kann ich sein, auch Branwell und Emily Brontë, bei meinen Großmüttern und einem 1938 in den Selbstmord getriebenen Juden muss ich passen, lässt er uns durch Zwischentöne (nicht -rufe) wissen.

Ich würde keine stringent erzählte Geschichte über den total durchgeknallten Kaiser von China lesen wollen. Aber bei den Brontës bedauere ich es doch ein bisschen, dass Thomas Stangl sich nicht mit einem historischen Roman zufriedengeben würde. Denn schon in den kurzen Erzählpassagen über den Trinker Branwell und die solipsistische (und dann auch wieder ganz nicht-solipsistische) Emily Brontë stecken Einsichten in Leben, die wirken wie die Irrlichter über dem Moor, oder Nachleucht-Farben auf Papier. Mehr davon würde mir gefallen (19. Jahrhundert auch nicht ganz unwichtig).

Stangls Großmütter reihen sich ein in die Riege der literarischen Großmütter, die an den Formwandler Odo aus Deep Space Nine gemahnen. Was dieser Autor anders macht als die anderen, ist der Versuch der Überwindung der Todesangst und des Todes durch das Erzählen, fast ohne zu erzählen. Wieder einmal keine leichte, aber eine lohnende Lektüre. Thomas Stangl: Quecksilberlicht. Roman. Matthes & Seitz 2022. 267 Seiten.

Freitag, 1. April 2022 von Karin S. Wozonig
Schlagworte:
Veröffentlicht in Literatur,Welt | Keine Kommentare

Lesen Sie…

Thomas Stangl. Ich weiß, ich wiederhole mich. Aber es gibt einen aktuellen Anlass:

Österreichischer Kunstpreis für Literatur
Preisträger: Thomas Stangl
Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert.
Jury: Dr. Bernhard Fetz, Mag.a Sabine Gruber und Dr.in Brigitte Schwens-Harrant

Jurybegründung:
„In eine Zeit, in der selbstgewiss verlautbarte Standpunkte aufeinanderprallen, stellt Thomas Stangl seit seinem Debüt Der einzige Ort (2004) seine Literatur, in der die Möglichkeiten der Sprache ausgelotet werden, mit der sich „Wirklichkeit“ erst erkunden lässt. Mit seinen Romanen, Erzählungen und Essays legt Stangl ein poetisches Netz über die Wirklichkeit und bereist und befragt diese damit. Er steht in der Tradition eines Prosaschreibens, das nicht zuerst auf die erzählte Geschichte baut, sondern auf die Wahrnehmung von Welt, die beeinflusst ist von Sprache, Denken und Erinnerung. Thomas Stangl eröffnet einen Raum der Verwandlung, der zugleich den Blick auf die Verhältnisse schärft.“

Montag, 10. Juni 2019 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: ,
Veröffentlicht in Literatur | Keine Kommentare

30 Stücke Prosa

Es gibt ein neues Buch von Thomas Stangl und darüber eine Rezension von Paul Jandl, die die Besonderheit dieses Erzählungsbandes würdigt:

Figuren werden über die Geschichten hinweg fortgeschrieben. Und sogar der Autor selbst kommt vor: als stets sich wandelndes Gebilde. Ein amorphes und von den Furien des Verschwindens erfasstes Wesen, das sich aus Respekt vor den Gegenständen seines Tuns vor allem eines abringen möchte: Genauigkeit.

Im Buch findet sich auch der Text „Die Toten von Zimmer 105“, ausgezeichnet mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis. Ich wiederhole: Lesen Sie Thomas Stangl.

Samstag, 8. Dezember 2018 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: , , , ,
Veröffentlicht in Literatur,Literaturwissenschaft,Welt | Keine Kommentare

Adventliche Veranstaltung: Kanon

Nein, nicht was Sie denken – keine Weihnachtslieder. Es geht um den literarischen Kanon. Dass Betty Paoli aus dem niemals hätte herausfallen dürfen und ihr Gedicht Ich jedem gebildeten Menschen bekannt und überhaupt obligates Maturawissen sein sollte, ist klar. Andere Dichterinnen und Dichter hingegen, die seinerzeit so ausgesehen haben, als würden sie nie untergehen, haben es nicht besser verdient – sagen wir heute und könnten uns dann aber auch die Frage stellen: Warum war jemand dereinst wirklich berühmt, kanonisiert (also zum Maßstab erhoben) und ist heute zu Recht vergessen? Thomas Keul, Herausgeber der Zeitschrift VOLLTEXT, hat eine Serie daraus gemacht und nächste Woche gibt es in Wien eine Veranstaltung dazu: alte schmiede. Reihe Literatur als Zeit-Schrift XXVIII

Donnerstag, 31. Mai 2018 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: ,
Veröffentlicht in Literatur,Literaturwissenschaft,Welt | Keine Kommentare

Was weiß man schon

Vor einiger Zeit habe ich angekündigt, dass ein „Dialog“ erscheinen würde, in dem der Autor Thomas Stangl meine Interpretation seines Romans Der einzige Ort mit seinem Wissen über seinen Roman bereichern würde. Jetzt ist es so weit, der Sammelband, in dem das geschehen ist, ist erschienen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen neuen lesenswerten Text von Stangl hinweisen, nämlich auf den Beitrag „Manchmal möchte ich die Sterne essen. Michel Leiris und das Schreiben über sich selbst“, erschienen in Volltext 1/2018, ein Text, der nicht nur die Frage berührt, wie mit der autobiographischen Konstruktion umzugehen sei, sondern in dem es auch um den Kolonialismus und den Postkolonialismus geht, Themen, die für Stangls literarisches Werk von Relevanz sind.

Donnerstag, 25. Januar 2018 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: ,
Veröffentlicht in Literatur,Welt | Keine Kommentare

In der Haut des Architekten

Thomas Stangl hat einen neuen Roman geschrieben. Er spielt (im mehrfachen Wortsinn) in Afrika, in einer Stadt mit dem Namen Belleville, in der Französisch die Kolonialsprache und vielleicht Ewe die richtige Sprache ist. Aber diese Eckdaten sind gar nicht wichtig. Alles, was es über die Stadt zu wissen gibt, wenn man wie der Protagonist als Europäer dorthin zu einem Kongress fährt, wird uns beschrieben. Der Sand auf den Straßen, die Struktur der Mauern, die Gerüche, die Farben der Hühner, der Weg zum Meer; alles nimmt der Architekt deutlich und überdeutlich wahr. weiterlesen

Mittwoch, 27. Dezember 2017 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: ,
Veröffentlicht in Literatur,Literaturwissenschaft,Welt | Keine Kommentare

Thomas Stangls Berühmtheit

Als Leserin oder Leser dieses Blogs sind Sie sicher auch an der Frage interessiert, was gute Literatur ist. Und wenn Sie sich intensiv damit beschäftigt haben, dann werden Sie wahrscheinlich auch wissen, dass diese Frage nicht nur unbeantwortbar, sondern dass sie eine gute Frage ist. Gute Fragen sind daran zu erkennen, dass sie neue Fragen aufwerfen. (Deshalb kann man sich mit manchen Themen, z.B. der Chaostheorie, nie abschließend befassen.) Im konkreten Fall wirft die Frage nach der guten Literatur die Frage auf, was denn an schlechter Literatur schlecht ist. Und noch interessanter: Warum wird Literatur, die in ihrer Zeit eine große Leserschaft erreicht hat, mit einigem zeitlichen Abstand neu bewertet? Wie kann es sein, dass allgemein für gut gehaltene, auf jeden Fall aber gern und viel gelesene Literatur einer späteren Generation nach poetologischen und ästhetischen Kriterien nicht mehr gut erscheint?

Das sind auch die Fragen, die im Rahmen der Serie „Zu Recht vergessen“ in der Literaturzeitschrift Volltext gestellt werden. Im zweiten Teil der Serie schreibt der Autor Thomas Stangl luzide über Werner Bergengruen und befasst sich mit emotionalen, intellektuellen und formalen Vorbehalten gegenüber dem Werk Bergengruens. Stangl schreibt über die komplizierte Differenzierung zwischen ideologischen und ästhetischen Einwänden (denn allzu simpel ist es, ein gelungenes Werk abzutun, weil sich sein Autor oder seine Autorin mit der falschen Ideologie, z.B. einer menschenverachtenden Denkweise, gemein gemacht hat), und er zeigt, dass Literatur, die „zu Recht vergessen“ ist, erst einmal Qualitäten haben muss, die aus heutiger Perspektive schwerer zu erkennen und zu benennen sind, als jene der Literatur, die den Kanon (i.e. Maßstab) für gute Literatur bildet.

Auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist es eine einfachere Aufgabe, zu erklären, was an Goethe dran ist, als zu erklären, was die Wirkung von Bergengruen, den „Goethe der Fünfzigerjahre“, ausgemacht hat und immer noch ausmacht. Denn dass Bergengruen auch heute noch seine Anhänger hat, das schreibt Thomas Stangl auch, und zwar mit dem schönen Satz: „Werner Bergengruen ist nicht wirklich vergessen, er hat immer noch wesentlich mehr Leser als, sagen wir, ich selbst;“

Lassen Sie mich wieder einmal eine Empfehlung für die Literatur von Thomas Stangl aussprechen, ganz besonders für „Der einzige Ort“. Auch seine Essays zum Leben und zum Schreiben, z.B. in „Freiheit und Langeweile“, sind absolut lesenswert. Und mit Spannung erwarte ich seinen neuen Roman: Fremde Verwandtschaften, vom Verlag angekündigt als

Kunstwerk, eine groß angelegte Reflexion über das Sein, voller Details und Feinheiten, doppelter Böden und versteckter Gänge.

Dienstag, 17. Juni 2014 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: , , ,
Veröffentlicht in 19. Jahrhundert,Literatur,Literaturwissenschaft,Welt | Keine Kommentare

Das Leben der Literaturwissenschaft

Mein Lieblingsrezensent Rolf Löchel hat wieder einmal eine Rezension geschrieben, die nach meiner Einschätzung bedeutend interessanter und lesenswerter ist, als das Buch das er bespricht. In dem besprochenen Buch geht es hauptsächlich um den von „den Dekonstruktivisten“ – wer immer das sein mag – verkündeten Tod des Autors, also kein ganz neues Thema und eines, mit dem ich mich aus mehreren Gründen ausführlich beschäftigt habe.

Diese Gründe sind vielfältig. Erstens: Meine literaturwissenschaftliche Sozialisation fand in den 1990er Jahren statt und ich hatte reichlich Gelegenheit, mich zu fragen, wie das mit dem Tod des Autors denn jetzt zu verstehen sei, so ganz rein theoretisch gesprochen. Zweitens: Ich bringe – LeserInnen dieses Blogs dürfte das nicht entgangen sein – einen beträchtlichen Teil meiner Lebenszeit mit toten Autorinnen und einen kleineren mit toten Autoren zu, was durchaus Anlass zum Nachdenken bietet: Die sind tot und ich bin am Leben, was sagt uns das? Und drittens: Im Rahmen eines Forschungsprojekts, das sich mit dem Thema „Literatur und Wissen“ befasst hat, habe ich einen Autor (Thomas Stangl) zu meinem literaturwissenschaftlichen Urteil über einen seiner Romane befragt und er hat freundlicherweise Antworten gegeben. Vorgetragen habe ich meine Fragen bei einer Konferenz, bei der der Autor durch eine Vertreterin gesprochen hat (alle gendertheoretisch informierten DekonstruktivistInnen, und auch die Konstruktivistinnen, müssen bei diesem Szenario vor Neid erblassen). Gedruckt wird diese Befragung in einem Konferenzband, über den ich die LeserInnen dieses Blogs zu gegebener Zeit informieren werde. Kurz gesagt: Das von Rolf Löchel besprochene Buch birgt keine Überraschungen für mich.

Die Rezension hingegen ist absolut zu empfehlen, denn sie bietet einige knackige Antworten auf die Frage „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturwissenschaft?“ Und fragen wir uns das nicht alle irgendwann?

Dienstag, 22. Oktober 2013 von Karin S. Wozonig
Schlagworte: , , ,
Veröffentlicht in Literatur,Welt | Keine Kommentare

Politisches=privat. Thomas Stangls neuer Roman

Sollten Sie im Jahr 2000 in Österreich gewesen sein, gar an den Donnerstagsdemos teilgenommen haben, und sollten Sie das Bedürfnis haben, sich durch ein literarisches Werk in die überaus beklemmende Atmosphäre zurückversetzen zu lassen, dann lesen Sie Thomas Stangls neuen Roman, er ist politisch. Er ist aber auch außerordentlich privat. Die persönlichen Entscheidungen der drei Hauptfiguren sind mit psychologischer Überzeugungskraft begründet und geschickt mit dem politischen Rahmen verknüpft. Keine leichte Lektüre, aber eine lohnende.

Eine enthusiasmierte Kritik von Christopher Heil (ich stimme nicht in allen Punkten mit ihm überein, aber der Rezensent gibt einen guten Eindruck von der hohen literarischen Qualität des Buchs) können Sie hier lesen.

Dienstag, 4. Januar 2011 von Karin S. Wozonig
Schlagworte:
Veröffentlicht in 19. Jahrhundert,Literatur,Literaturwissenschaft | Keine Kommentare

Lektüreempfehlung: Der einzige Ort

Heute, am Geburtstag des Autors, empfehle ich die Lektüre von Thomas Stangls Roman „Der einzige Ort“. Der 2004 erschienene Text handelt von den europäischen Reisenden Gordon Laing und René Caillié, die sich in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts auf die Suche nach dem sagenumwobenen Ort Timbuktu machen. Thomas Stangl macht von seinen Quellen (unter anderem Briefe und Dokumente von Laing und Cailliés Reisebeschreibungen) in bester (postmoderner) literarischer Manier Gebrauch. Hier ein kurzer Textauszug:

Das Licht, das sehr viel später durch die Türöffnung dringt, dem Schattenreich (Lehm, pralle Getreidesäcke, ein Regenschirm, um den sich eine knochige Hand krampft) Konturen gibt, fügt sich in den engen Kreis der Angst und des Schmerzes ein, verstärkt den Schmerz; von seinem Gaumendach zieht sich die Spannung in die Hirnhaut, in die Knochen seiner Schädeldecke, frißt sich voran; etwas in seinem Nacken scheint zu zerreißen, etwas in seiner Kehle scheint sich aufzulösen. Er kann die Augen kaum offen halten, von den Rändern seines Blickfelds her drängt sich etwas Fremdes ins Bild, verzerrt es und schmilzt es zusammen; dieses Fremde (obwohl vom Licht getragen) verschwindet auch nicht bei geschlossenen Lidern, doch solange er eine Spur des Wissens davon bewahren kann, daß es sich um nichts als unbestimmte Traumerscheinungen handelt, glaubt er das Entsetzen in Grenzen halten zu können, den letzten Trost zu bewahren, daß es noch eine Außenwelt gibt, eine Welt, die nach begreifbaren Regeln funktioniert, so wie er nach begreifbaren, ihm bekannten Regeln funktioniert hat.

Thomas Stangl: Der einzige Ort. Roman. München: btb 2006. S. 138f.