Donnerstag, 15. Juli 2010 von Karin S. Wozonig
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Chaostheorie als Lebensweisheit

Ein Schlüsselbegriff der Chaostheorie ist die Bifurkation. Sie bezeichnet eine qualitative Zustandsänderung eines nichtlinearen Systems. Der Begriff geht auf den Mathematiker und Physiker Henri Poincaré zurück, der ihn in diesem Sinn erstmals 1885 verwendet. Auch die Gabelung eines Flusses oder einer Pflanze wird als Bifurkation bezeichnet. Und gelegentlich wird beobachtet, dass es auch auf Lebenswegen Bifurkationen gibt:

In jedem Menschenleben treten Perioden ein, von wo aus sich, wie die Knotenpunkte an einem Pflanzenstengel, neue Entwicklungen erschließen, welche entweder die äußeren Verhältnisse und Schicksale oder die innere Geistesrichtung für lange Zeit, vielleicht für das ganze Leben bestimmen.
Aus: Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers, 1885

Montag, 12. Juli 2010 von Karin S. Wozonig
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Königgrätz, Wohltätigkeit, Frauenfrage

Zweiter Teil
Auf die Schlacht von Königgrätz (3. Juli 1866) reagierte die Schriftstellerin Betty Paoli mit einem Feuilleton, in dem sie dazu aufruft, Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Hier ein weiterer gekürzter Ausschnitt aus dem Text:

Befände sich der Staat auch nicht in seiner gegenwärtigen Bedrängnis, so könnte er den, ob noch so gerechten, Ansprüchen dieser hilflosen Schar doch immer nur in unvollständiger Weise genügen. Wie die Sachen jetzt stehen, kann er für sie nicht mehr tun, als wozu Gesetz und Norm ihn verpflichten. Er ist nicht in der Lage, großmütig sein zu dürfen. Ebenso eitel wäre ein Aufruf an die Privatwohltätigkeit, wie herrlich sich diese auch neuerdings bewährt hat. Zudem dürfte es unter den Hilfsbedürftigen viele geben, deren durch Erziehung und Bildung gestärktes Selbstgefühl sich gegen eine Unterstützung, wie man sie Bettlern reicht, empören und sie bestimmen würde, lieber zu darben, als Almosen zu empfangen. Für diese – die Unglücklicheren, weil sie die Edleren sind – muss Sorge getragen werden. Die sicherste, ehrenvollste und vorteilhafteste Weise, in der dies geschehen kann, besteht darin, dass man ihnen Erwerbsquellen erschließe, die in anderen Ländern schon längst den Frauen zugänglich sind. Hier ist das Gebiet, auf welchem der Staat und Private sich zu gemeinschaftlichem Wirken vereinigen könnten; jener, indem er nach dem Beispiel Frankreichs, der Schweiz usw. seine Post-, Stempel- und Telegraphen-Bureaus zum Teil von Frauen verwalten ließe; diese, indem sie sich endlich von dem albernen Vorurteil lossagten, der beschränkteste Mann sei zu einer Anstellung in einem Geschäft, einem Comptoir, einer Schule besser befähigt als die intelligenteste Frau.

Montag, 5. Juli 2010 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli und die „Frauenfrage“

Erster Teil

In der Schlacht bei Königgrätz trafen am 3. Juli 1866 die Truppen Preußens auf die Armeen Österreichs und Sachsens. Durch den Sieg in dieser Schlacht mit tausenden Toten wurde Preußen Führungsmacht in Deutschland, was für das Österreichische Kaiserreich weitreichende Folgen hatten. Kaiser Franz Joseph war nach der verheerenden Niederlage zur Kapitulation und zur Abtretung Venetiens an Napoleon III. gezwungen. Österreich schied aus dem Deutschen Bund aus und Preußen annektierte Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt und schuf den Norddeutschen Bund. „Unter dem frischen Eindrucke tiefster  Erschütterungen“ reagierte die Schriftstellerin Betty Paoli auf das Ereignis mit dem Feuilleton „Ein Wort Pombal’s“. Hier ein Auszug:

Ich denke, es ist für uns alle an der Zeit, uns das Wort zurückzurufen, mit dem Pombal die portugiesische Königsstadt vom Untergang rettete. Der Boden, auf dem wir so sicher zu wandeln glaubten, begann zu wanken, Flammen schlugen daraus empor, die Gebäude, die unser Hoffen darauf gegründet hatte, sind eingestürzt und haben im Einsturz Tausende und Abertausende erschlagen. – Nie war eine Trauer berechtigter! Wenn sie nicht zur Verzweiflung werden soll, muss sie in tatkräftiger Liebe den Aufschwung und die Versöhnung finden. Das ist der Sinn des Wortes: „Wir wollen die Toten begraben und für die Lebenden sorgen!“ Aber diese Teilnahme soll sich nicht bloß auf die unmittelbaren Opfer des Krieges beschränken, sie muss sich auch auf jene erstrecken, denen er ihre Stütze geraubt, deren fernere Existenz er gefährdet hat. Auch für diese muss gesorgt werden! Vor allem für die Witwen und Waisen der Gefallenen und für die noch größere Zahl derjenigen, die für den verstümmelten Vater, Gatten oder Bruder, der bisher ihr Ernährer war, nun ihrerseits sorgen müssen. [Fortsetzung folgt]

Mittwoch, 30. Juni 2010 von Karin S. Wozonig
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Lyrische Gedichte, eine Gebrauchsanweisung, 3. und letzter Teil

Oder: Ein Hinweis für den Ecocriticism

Denn wie soll ein lyrisches Gedicht genossen sein?
Man muß es mit innerer Sammlung anklingen lassen an die Saiten des Innern, auf daß diese mitklingen und nachzittern. Ist doch alles Verstehen auf dem Gebiete der Kunst ein Nachzeichnen, ein Miterleben, ein Sichhineinversetzen, Sichhineinfühlen!
Man soll nicht in Hast, wie es uns die Tagesberichte zur leidigen Gewohnheit machen, eins nach dem andern überfliegen oder verschlingen, sondern die Empfindungen müssen nachempfunden werden, müssen verschmelzen mit den unsrigen, auf daß allmählich die Gedichte innerer Besitz werden, wir immer und immer wieder gerne zu ihnen zurückkehren, daß immer mehr und mehr von unserem eigenen Erleben zwischen den Zeilen mittönt und immer neue ungeahnte Schönheit, wie ein liebliches, geheimnisvolles Wunder, sich uns erschließt. Und wie wonnig ist dies, wenn zugleich der Blick traumverloren durch den stillen Wald schweift, wo die Wipfel rauschen, nur hier und da eine Meise zirpt, ein Specht klopft oder in der Ferne eine Hohltaube ihr „gurrgurr“ erhebt, oder wenn die Möwen über die Wellen der See dahinflattern, um die Wette mit den huschenden, blinkenden Sonnenstrahlen!

Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896

Mittwoch, 16. Juni 2010 von Karin S. Wozonig
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Lyrische Gedichte, eine Gebrauchsanweisung, 2. Teil

Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, und was ist, und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?

Wer hat denn Muße, zu träumen, Muße, sich einzuspinnen in das Reich des schönen Scheins, und nun gar in das Reich lyrischer Empfindungen? Ist nicht Lyrik weiche, süßliche Kost, unwürdig eines zum praktischen, zum „politischen“ Leben und Denken erwachten Deutschen?

Es giebt eben immer noch Leute – und die Race wird nie aussterben -, welche, nicht zufrieden mit des Tages Treiben, mit Kämpfen und Ringen, über der realen Alltagswelt sich eine ideale Welt aufbauen müssen, welche ein Doppelleben führen …, ernst und streng und gewissenhaft ihrer praktischen Arbeit sich hingeben und dann in stillen, geweihten Stunden des Ausruhens dem Schönen alle ihre Herzenspforten öffnen, welche in der Morgenfrühe in den Wald hinauseilen, im Schatten der Bäume ruhen oder an die See aus der Enge der Stadt sich flüchten, an den murmelnden Wellen träumen oder in die großartige Einsamkeit der Bergesriesen emporstreben und zur Begleitung ein Büchlein mitnehmen, und zwar gerade ein Bändchen lyrischer Gedichte.

Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896

Donnerstag, 3. Juni 2010 von Karin S. Wozonig
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Der Beamte als Schriftsteller

Während Eduard Mautner an den kleinen Freuden des menschlichen Lebens noch immer so regen Antheil nimmt, ergibt sich ein anderer vaterländischer Dichter, Herr Cajetan Cerri, leider immer mehr tiefsinnigen Betrachtungen der bedenklichsten Art, wie die „Rückblicke und Ausblicke“ verrathen, die er in dem neuesten Bande der „Dioskuren“, des poetischen Jahrbuches des Oesterreichischen Beamtenvereins, veröffentlicht. Es ist interessant, daß die meisten österrechichen Dichter früher Beamte waren – ja, Müßiggang ist aller Laster Anfang! Ich glaube nicht, daß die Literarhistoriker schon hierauf ihr Augenmerk gerichtet haben. Nach meiner Ansicht erhalten viele unserer Beamten die dichterische Anregung durch ihre Vertrautheit mit den Schönheiten der Natur, deren geheimnißvolles Walten sie durch fortwährendes Hinausschauen zum Fenster während der Amtsstunden belauschen. Der k.k. Hof-Secretär Cerri hat diesmal die steife Uniform des Verses abgelegt und erscheint im ungezwungensten prosaischen Gedanken-Négligé.

Daniel Spitzer: Wiener Spaziergänge. NFP, 1. Januar 1881, S. 6f.

Dienstag, 25. Mai 2010 von Karin S. Wozonig
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Literarhistoriker

Der Literarhistoriker

Was nennst du ihn Schurke, alter Brummtopf?
Er verleumdet nicht, er ist nur ein Dummkopf.

Franz Grillparzer, Epigramme 1865

Sonntag, 16. Mai 2010 von Karin S. Wozonig
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Die Elektrisier-Maschine im Haus

Betty Paoli war, wie bereits erwähnt, bei Sigmund Freud in Behandlung, er wandte an ihr die Elektrisier-Therapie an. Später ließ sich Paoli regelmäßig hypnotisieren, allerdings nicht von Freud, sondern von Ludwig Frey. Der Hausarzt der Familie Fleischl-Marxow und Betty Paolis war Josef Breuer. Über die zahlreichen Krankheiten Paolis und über die diversen Therapien, denen sich die etwas hypochondrisch veranlagte Schriftstellerin unterzogen hat, berichtet Helene Gasser, angestellt im Hause Fleischl-Marxow seit 1864:

Auch über ihre Krankheiten, die Curen, die sie gebraucht hat wäre viel zu schreiben; man hat da sogar was gelernt. Anfangs hat sie im Arm längere Zeit Schmerzen gehabt, […] da hat Dr. Breuer das Massieren verordnet, […] ob es geholfen hat, das weiss ich nicht mehr. […] Einmal frägt mich die gnäd. Frau: „Du, was soll ich dem Frl. zu ihrem Geburtstag kaufen?“ u. ich sage „na, eine Elektrische Maschine.“ „Was fällt Dir denn ein“, hat die Gnädige gemeint. Es hat nicht lange gedauert da war eine da; anfangs hat Dr. Breuer seine geliehn, dann war eine im Hause.

Donnerstag, 13. Mai 2010 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli, Elektrizität und Literatur

Vor einigen Tagen habe ich davon berichtet, dass die Lyrikerin und Journalistin Betty Paoli von Sigmund Freud „electrifiziert“ wurde. Es handelt sich beim Elektrisieren um eine Behandlung neurologischer Beschwerden, die Freud bei dem Französischen Arzt Jean-Martin Charcot kennengelernt hatte. Was Literatur und Elektrizität miteinander zu tun haben, können Sie in einem interessanten Aufsatz von Rupert Gaderer, derzeit Post-Doc am Graduierten Kolleg Mediale Historiographien (Bauhaus-Universität Weimar, Universität Erfurt und Friedrich-Schiller-Universität Jena), nachlesen.

Samstag, 8. Mai 2010 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli bei Goethes Schwiegertochter

Tagebuch Ottilie von Goethe, 8. Mai 1855: „Abends kam Fl Glück war sehr amüsant.“