Lyrische Gedichte, eine Gebrauchsanweisung, 1. Teil
Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, und was ist, und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?
Es giebt vielleicht kein Wort, das so kurz und treffend unsere Zeit charakterisierte, als „Unrast“. Wer will sagen, wer es zuerst geprägt hat? Es ist aber durch und durch modern, es ist, um mit dem Zeitjargon zu reden, fin de siècle. … Aber Unrast ist ein Kind unserer Tage, dem Begriffe wie dem Worte nach. Es trägt den Stempel der jüngsten Gegenwart. Es bezeichnet den Dämon, der die moderne Kulturmenschheit umtreibt, es ist die Pandora-Büchse alles Unheils, wie es sich kundgiebt in der Nervosität und Sinnnenüberreizung, in der Gier nach Genuß, in dem Unfrieden der Seelen, dem blasierten Pessimismus und Materialismus, in dem Hasten nach Abwechselung, in dem Streben nach dem innerlich wertlosen Tand von äußeren Ehren und Auszeichnungen und in dem immer mehr gesteigerten Raffinement des Genießens aller Art, aber auch in der Unfähigkeit, die Gedanken und Empfindungen in aller Stille und Ruhe zu pflegen und ausreifen zu lassen und sich dem Zauber der Dichtung und der Denkarbeit der großen Geister der Menschheit in weihevoller Sammlung hinzugeben. …
Welche Frage hört man wohl heute häufiger, wenn von Poesie die Rede ist, als: Wer liest denn noch lyrische Dichtungen? Und wer so fragt, wer sich verächtlich von ihnen abkehrt, der steht eben unter dem Banne der „Unrast“ unseres Lebens. Er ist nur eine der vielen Stimmen, die da jene Abwendung von dem Idealen zu dem Praktischen und Materiellen, die Nüchternheit der Denkart, die überall den Schwung und eine höheren, auf das Allgemeine gerichteten Auffassungsweise verdrängt hat, und jene Mißachtung alles dessen, was an das Gefühlsmäßige heranstreift, verraten. [Fortsetzung folgt]
Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896