Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, und was ist, und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?
Wer hat denn Muße, zu träumen, Muße, sich einzuspinnen in das Reich des schönen Scheins, und nun gar in das Reich lyrischer Empfindungen? Ist nicht Lyrik weiche, süßliche Kost, unwürdig eines zum praktischen, zum „politischen“ Leben und Denken erwachten Deutschen?
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Es giebt eben immer noch Leute – und die Race wird nie aussterben -, welche, nicht zufrieden mit des Tages Treiben, mit Kämpfen und Ringen, über der realen Alltagswelt sich eine ideale Welt aufbauen müssen, welche ein Doppelleben führen …, ernst und streng und gewissenhaft ihrer praktischen Arbeit sich hingeben und dann in stillen, geweihten Stunden des Ausruhens dem Schönen alle ihre Herzenspforten öffnen, welche in der Morgenfrühe in den Wald hinauseilen, im Schatten der Bäume ruhen oder an die See aus der Enge der Stadt sich flüchten, an den murmelnden Wellen träumen oder in die großartige Einsamkeit der Bergesriesen emporstreben und zur Begleitung ein Büchlein mitnehmen, und zwar gerade ein Bändchen lyrischer Gedichte.
Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896
Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, und was ist, und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?
Es giebt vielleicht kein Wort, das so kurz und treffend unsere Zeit charakterisierte, als „Unrast“. Wer will sagen, wer es zuerst geprägt hat? Es ist aber durch und durch modern, es ist, um mit dem Zeitjargon zu reden, fin de siècle. … Aber Unrast ist ein Kind unserer Tage, dem Begriffe wie dem Worte nach. Es trägt den Stempel der jüngsten Gegenwart. Es bezeichnet den Dämon, der die moderne Kulturmenschheit umtreibt, es ist die Pandora-Büchse alles Unheils, wie es sich kundgiebt in der Nervosität und Sinnnenüberreizung, in der Gier nach Genuß, in dem Unfrieden der Seelen, dem blasierten Pessimismus und Materialismus, in dem Hasten nach Abwechselung, in dem Streben nach dem innerlich wertlosen Tand von äußeren Ehren und Auszeichnungen und in dem immer mehr gesteigerten Raffinement des Genießens aller Art, aber auch in der Unfähigkeit, die Gedanken und Empfindungen in aller Stille und Ruhe zu pflegen und ausreifen zu lassen und sich dem Zauber der Dichtung und der Denkarbeit der großen Geister der Menschheit in weihevoller Sammlung hinzugeben. …
Welche Frage hört man wohl heute häufiger, wenn von Poesie die Rede ist, als: Wer liest denn noch lyrische Dichtungen? Und wer so fragt, wer sich verächtlich von ihnen abkehrt, der steht eben unter dem Banne der „Unrast“ unseres Lebens. Er ist nur eine der vielen Stimmen, die da jene Abwendung von dem Idealen zu dem Praktischen und Materiellen, die Nüchternheit der Denkart, die überall den Schwung und eine höheren, auf das Allgemeine gerichteten Auffassungsweise verdrängt hat, und jene Mißachtung alles dessen, was an das Gefühlsmäßige heranstreift, verraten. [Fortsetzung folgt]
Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896