Freitag, 20. Juli 2012 von Karin S. Wozonig
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Märchen erzählen

Morgen werde ich wieder einen meiner „literarischen Salons“ abhalten, ein Treffen, das dem Austausch über ein Thema gewidmet ist und bei dem die kultivierte Diskussion im Mittelpunkt steht – Kaffee und Kuchen sind erfreuliche Ergänzungen. Ich habe die Anregung einer Teilnehmerin beim letzten Treffen aufgenommen und vorgeschlagen, wir könnten morgen über Märchen sprechen. Ich fange selbstverständlich wie immer im neunzehnten Jahrhundert an, also mit den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, aber ich hoffe, dass wir auch auf Brave zu sprechen kommen werden, einen Disney-Animationsfilm, den ich mit Vergnügen gesehen habe. Oder auf Shrek. Und auch über tschechische Märchenfilme gäbe es viel zu sagen. Das Märchen verträgt den Medienwechsel vom Buch zum Film sehr gut, finde ich.

Vielleicht werde ich auch gar nicht über die Gebrüder Grimm sprechen, sondern mich stattdessen dem „Märchenroman“ Das Leben der Hochgräfin Gritta von Rattenzuhausbeiuns von Gisela und Bettina von Arnim widmen, einer lohnenden Lektüre, wenn man z.B. das Katapultieren von Untergebenen und Töchtern interessant findet:

Jeden Tag wurde die Rettungsmaschine etwas höher geschraubt; sie bestand nämlich darin, daß sie einen im Augenblick der Gefahr von der gefährlichen Stelle durch einen leisen Druck wegschleuderte. Der Graf laborierte seit einem Jahr daran, daß die Maschine bei diesem Wegschleudern einem nicht wehe tue; dies sollte durch den wohlberechneten Bogenschwung bewerkstelligt werden. Alles was in die Nähe des gestrengen Herrn kam, mußte springen, Mensch und Tier. – Es stellte sich der Graf in einiger Entfernung; heute war die Maschine höher als je gespannt. Müffert setzte sich auf den Sessel, nahm Mut, wenn er welchen fand, drückte und sauste durch die Lüfte hoch – und blieb an einem weit aus der Wand ragenden Stock hängen, der, schön ausgeschnitzt und mit eingelegten Messingfiguren verziert, wahrscheinlich früher zum Halter einer Ampel gedient hatte. Jetzt hing ein langer Faden mit Fliegenleim daran herab, und Müffert hing in Gesellschaft der Summenden und Brummenden, ängstlich in die Tiefe schauend, über die er sonst in einem Bogen weg flog; aber jetzt war er in höchster Höhe hängen geblieben; so schwang er sich rittlings auf den Ampelhalter. Der Graf sah mit großen Augen zu, war zornig, und rief »Kuno Gebhardt Müffert, Du gleichst schier einem Lämplein, daß Du so hängen bleibst.« -»Jetzt komm einmal, Kleine, Du bist von meinem Fleisch und Blut, spring ordentlich!« – Der Graf hob die kleine Gritta auf die Maschine: »Da«, sagte er, »ich will sie auch ein wenig niederer schrauben.« – »Vater«, rief Gritta, »sie ist doch heute so hoch.« – »Ach was«, sagte der Graf und brummte; fix griff die kleine Gritta zu dem Knopf, drückte und sprang; aber es ward ihr so angst, des armen Müffert Beine schwebten dicht über ihr, sie griff zu und blieb aus dem Schwung gebracht daran hängen. »Oh«, schrie der Vater zornig, »war das mein Bein, was da hängen bleibt, mein Bein und Fleisch?« – Während dieser Worte hatte Müffert die zitternde Gritta zu sich aufgehoben und setzte sie nun in ein kleines Mauernischchen neben an, zu einem uralten zerbrochenen Muttergottesbild.

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