Seumes Weisheit
Brief von Seume an Hanns Schnorr von Carolsfeld, 1801: „Mit der Lebensbeschreibung hats noch Zeit; erst wollen wir leben, dann schreiben. Viel gelebt und wenig geschrieben! besser als umgekehrt.“
Brief von Seume an Hanns Schnorr von Carolsfeld, 1801: „Mit der Lebensbeschreibung hats noch Zeit; erst wollen wir leben, dann schreiben. Viel gelebt und wenig geschrieben! besser als umgekehrt.“
Heute abend werde ich mit einem Grüppchen Interessierter wieder über Seumes Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 sprechen. Im Gegensatz zu einer frühren literarischen Neigungsgruppe, die sich sozusagen hypertextuell mit einem Buch beschäftigt hat, beginnen wir diesmal am Anfang. Wer mitmachen will, schicke ein Mail.
Franz Grillparzer im Gespräch mit Marie von Ebner-Eschenbach: „No ja, Literaturgeschichte – ein gemaltes Mittagessen!“
Graz
Hier will ich einige Tage bleiben und ruhen: die Stadt und die Leute gefallen mir. Du weißt, daß der Ort auf beiden Seiten der Murr sehr angenehm liegt; und das Ganze hat hier einen Anblick von Bonhommie und Wohlhabenheit, der sehr behaglich ist. … Graz ist eine der schönsten großen Gegenden, die ich bis jetzt gesehen habe; die Berge rund umher geben die herrlichsten Aussichten und müssen in der schönen Jahreszeit eine vortreffliche Wirkung tun. Das Schloß, auf einem ziemlich hohen Berge, sieht man sehr weit; und von demselben hat man rund umher den Anblick der schön bebauten Landschaft, die durch Flüsse und Berge und eine Menge Dörfer herrlich gruppiert ist. … Die Grazer sind ein gutes, geselliges, jovialisches Völkchen; sie sprechen im Durchschnitt etwas besser deutsch als die Wiener.
Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Foreign poetesses are not a whit better than English; think of Madame DesbordesValmont (we think that is the way she spells her name), think of her pitiful wails and lamentations, „Mes Pleurs“ and „Mes Larmes“ innumerable, enough to fill an ocean. As for Germany’s songstresses, though she has several, they are all unknown to fame, save „Betty Paoli“, whom we admire greatly, and should rank upon a level with Mrs. Browning and Miss Lowe, for artistic power; that is, we recognize hers as a kindred spirit with those of Germany’s greatest bards, one who may justly claim equality with them; but then we have always called her „the female Byron,“ so sad is she, so bitter, so painfully passionate; nevertheless, she is great. We recommend Betty Paoli’s poems to the study of every lover of German poetry; they are pure and noble artistic creations, earnest-hearted and earnest-minded, and, above all, not diffuse (wonderful to relate); her words rarely or never outrun the thoughts they represent.
Still, in every country, female poetry it doleful or morbid, and generally speaking it is weak and diffuse, and therefore, as we said at starting, it does not present a too delightful theme.“
The eclectic magazine of foreign literature, science, and art. Volume 2, 1851
Im Vorjahr habe ich als Ausgründung meines literarischen Salons „Kaffeehausgespräche“ eine „Neigungsgruppe ‚Der Mann ohne Eigenschaften'“ gegründet, in der über den Jahrhundertroman von Robert Musil gesprochen wurde. Das Interesse an dem Buch erlahmte noch weit vor dem Krypto-Inzest und es gibt ein Nachfolgeprojekt: die Lese- und Diskussionsgruppe „Mit Seume nach Syrakus“, die sich Johann Gottfried Seumes Reisebericht „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ widmet. Das erste Treffen der Gruppe wird am 17. April stattfinden, Weitere Informationen gibt es auf www.kaffeehausgespraeche.de
Aus gegebenem Anlass werde ich in meinem Blog in unregelmäßigen Abständen aus Seumes Buch zitieren. Ich beginne heute mit einer Reflexion, die ihren Anfang ungefähr in der Mur-Mürz-Furche genommen hat:
Jeder soll billig sein für sich; das ist menschlich, das ist schön; aber alle müssen gerecht sein gegen alle; das ist notwendig, sonst kann das Ganze nicht bestehen. Der billige Richter ist ein schlechter Richter, oder seine Gesetze sind mehr als mangelhaft. Die Billigkeit des Richters wäre ein Eingriff in die Gerechtigkeit. Zur Gerechtigkeit kann, muß der Mensch gezwungen werden, zur Billigkeit nicht; das ist in der Natur der Sache gegründet. … Wir haben Billigkeit, Großmut, Menschenliebe, Gnade und Erbarmung genug im einzelnen, bloß weil wir im allgemeinen keine Gerechtigkeit haben. Die Gnade verderbt alles, im Staate und in der Kirche. Wir wollen keine Gnade, wir wollen Gerechtigkeit; Gnade gehört bloß für Verbrecher; und meistens sind die Könige ungerecht, wo sie gnädig sind. Wer den Begriff der Gnade zuerst ins bürgerliche Leben und an die Stühle der Fürsten getragen hat, soll verdammt sein, von bloßer Gnade zu leben; vermutlich war er ein Mensch, der mit Gerechtigkeit nichts fordern konnte.
Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802.
A new poetess, Betty Paoli, has created a great sensation here amongst the literary world. Her poems, which are published in one volume by a bookseller in Pesth, contain much that is truly admirable. Great things are expected from this modern Sappho (for Betty Paoli sings chiefly of love), and judging from these her first published poems, she may indeed be considered as an oasis amongst the somewhat barren desert of modern German poetry.
The Foreign and Colonial Quarterly Review, April 1843
In Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ finden wir die Beschreibung einer Fürstin und ihrer Vorleserin, in denen wir, wenn wir wollen, die Fürstin Maria Anna zu Schwarzenberg (geb. 1767, gestorben am 2. April 1848) und Betty Paoli erkennen können:
Es lebte eine alte, edle verwitwete Fürstin in unserer Stadt, deren zu früh verstorbener Gemahl den Oberbefehl in den letzten großen Kriegen geführt hatte. Sie war häufig mit ihm im Felde gewesen und hatte da die Verhältnisse von Kriegsheeren und ihren Bewegungen kennen gelernt, sie war in den größten Städten Europas gewesen und hatte die Bekanntschaft von Menschen gemacht, in deren Händen die ganzen Zustände des Weltteiles lagen, sie hatte das gelesen, was die hervorragendsten Männer und Frauen in Dichtungen, in betrachtenden Werken und zum Teile in Wissenschaften, die ihr zugänglich waren, geschrieben haben, und sie hatte alles Schöne genossen, was die Künste hervorbringen. … Weil aber, obwohl ihre Augen noch nicht so schwach waren, das viele Lesen, das sie sich hatte auflegen müssen, bei ihrem Alter doch hätte beschwerlich werden können, hatte sie eine Vorleserin, welche einen Teil, und zwar den größten, des Lesestoffes auf sich nahm und ihr vortrug. Diese Vorleserin war aber keine bloße Vorleserin, sondern vielmehr eine Gesellschafterin der Fürstin, die mit ihr über das Gelesene sprach, und die eine solche Bildung besaß, daß sie dem Geiste der alten Frau Nahrung zu geben vermochte, so wie sie von diesem Geiste auch Nahrung empfing. Nach dem Urteile von Männern, die über solche Dinge sprechen können, war die Gesellschafterin von außerordentlicher Begabung, sie war im Stande, jedes Große in sich aufzunehmen und wieder zu geben, so wie ihre eigenen Hervorbringungen, zu denen sie sich zuweilen verleiten ließ, zu den beachtenswertesten der Zeit gehörten.
Nun ist die Darstellung der Wirklichkeit, vor allem real existierender Personen, in literarischen Texten aber eine komplizierte Angelegenheit. Man könnte sagen, die Fürstin und die Vorleserin in Stifters Roman haben nichts mit der Fürstin Maria Anna zu Schwarzenberg und der Dichterin Betty Paoli zu tun, und dass es nichts zur literarischen Sache tut, dass Stifter die Fürstin und Paoli gekannt hat. Ich möchte zu dieser Frage eine Erfindung Stifters, den Protagonisten der Erzählung „Nachkommenschaften“, zu Wort kommen lassen:
Freilich sagt man, es sei ein großer Fehler, wenn man zu wirklich das Wirkliche darstelle: man werde da trocken, handwerksmäßig, und zerstöre allen dichterischen Duft der Arbeit. Freier Schwung, freies Ermessen, freier Flug des Künstlers müsse da sein, dann entstehe ein freies, leichtes, dichterisches Werk. Sonst sei alles vergeblich und am Ende – das sagen die, welche die Wirklichkeit nicht darstellen können. Ich aber sage: warum hat denn Gott das Wirkliche gar so wirklich und am wirklichsten in seinem Kunstwerke gemacht, und in demselben doch den höchsten Schwung erreicht, den ihr auch mit all euren Schwingen nicht recht schwingen könnt? In der Welt und in ihren Teilen ist die größte dichterische Fülle und die herzergreifendste Gewalt. Macht nur die Wirklichkeit so wirklich wie sie ist, und verändert nicht den Schwung, der ohnehin in ihr ist, und ihr werdet wunderbarere Werke hervorbringen, als ihr glaubt, und als ihr tut, wenn ihr Afterheiten malt und sagt: Jetzt ist Schwung darinnen.
Meine Blog-Reihe zu dem Buch „Über den Umgang mit Menschen“ von Knigge möchte ich damit schließen vorzuführen, dass der „echte Knigge“ viel mehr geschrieben hat als ein Benimmbuch. Der Autor lässt uns wissen, was er in seinem Buch nicht vermitteln möchte, und das ist einiges. Hier nur ein kleiner Auszug aus den Regeln, über die „viel mehr zu sagen, zu lehren“ sein Buch „nicht der Ort“ sei:
Warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe; … daß man so wenig als möglich in einer Gesellschaft den Leuten den Rücken zukehren, in Titeln und Namen nicht irre werden solle; … daß man auf steilen Treppen im Hinuntersteigen die Frauenzimmer vorausgehn, im Hinaufsteigen aber sie folgen lassen müsse; … daß man bei Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, nicht wieder vor sich hinlegen solle, wie so viele tun; … daß es sich nicht schicke, in Gesellschaften in das Ohr zu flüstern, bei Tafel krumm zu sitzen, unanständige Gebärden zu machen, noch zu leiden, daß ein Frauenzimmer oder jemand, der vornehmer ist als wir, von einer Speise, die vor uns steht, vorlege;
Das sind für Adolph von Knigge Selbstverständlichkeiten, die sich in ein größeres Ganzes einfügen:
Kurz, alles was eine feine Erziehung, was Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andre verrät, das gehört notwendig dazu, den Umgang angenehm zu machen, und es ist wichtig, sich in solchen Dingen nichts nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Anstandes, selbst in dem Zirkel seiner Familie, zu beobachten, um sich das zur andern Natur zu machen, wogegen wir so oft fehlen, und was uns Zwang scheint, wenn wir uns Nachlässigkeiten in der Art zu verzeihn gewöhnt sind.
Heute bringe ich eine Neuerscheinung zur Kenntnis:
Anlässlich des 200. Geburtstags von Fanny Lewald [geboren am 24. März 1811 in Königsberg, Preußen] erscheint folgender Band:
Christina Ujma (Hg.)
Fanny Lewald (1811-1889)
Studien zu einer großen europäischen Schriftstellerin und Intellektuellen
Vormärz-Studien Bd. XX, Aisthesis 2011
Das ist aber keine der beiden Erscheinungen, von denen der Titel dieses Blogeintrags spricht. Dieser bezieht sich vielmehr auf folgende Bemerkung der Elise von Hohenhausen (1789–1857, Lyrikerin, Erzählerin, Publizistin und Übersetzerin; ihre Tochter, eine Schriftstellerin und Salonière, wurde in diesem Blog als Herausgeberin einer Lyrikanthologie gewürdigt), festgehalten in einem Brief an Heinrich Heine:
Varnhagen hat mich mit alter Freundschaft aufgenommen — Betty Paoli, Fanny Lewald, die ich hier kennen lernte, sind interessante neue Erscheinungen…