Oder: Ein Hinweis für den Ecocriticism
Denn wie soll ein lyrisches Gedicht genossen sein?
Man muß es mit innerer Sammlung anklingen lassen an die Saiten des Innern, auf daß diese mitklingen und nachzittern. Ist doch alles Verstehen auf dem Gebiete der Kunst ein Nachzeichnen, ein Miterleben, ein Sichhineinversetzen, Sichhineinfühlen!
Man soll nicht in Hast, wie es uns die Tagesberichte zur leidigen Gewohnheit machen, eins nach dem andern überfliegen oder verschlingen, sondern die Empfindungen müssen nachempfunden werden, müssen verschmelzen mit den unsrigen, auf daß allmählich die Gedichte innerer Besitz werden, wir immer und immer wieder gerne zu ihnen zurückkehren, daß immer mehr und mehr von unserem eigenen Erleben zwischen den Zeilen mittönt und immer neue ungeahnte Schönheit, wie ein liebliches, geheimnisvolles Wunder, sich uns erschließt. Und wie wonnig ist dies, wenn zugleich der Blick traumverloren durch den stillen Wald schweift, wo die Wipfel rauschen, nur hier und da eine Meise zirpt, ein Specht klopft oder in der Ferne eine Hohltaube ihr „gurrgurr“ erhebt, oder wenn die Möwen über die Wellen der See dahinflattern, um die Wette mit den huschenden, blinkenden Sonnenstrahlen!
Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896
Wie soll ein lyrisches Gedicht genossen werden, und was ist, und wie entsteht ein lyrisches Gedicht?
Wer hat denn Muße, zu träumen, Muße, sich einzuspinnen in das Reich des schönen Scheins, und nun gar in das Reich lyrischer Empfindungen? Ist nicht Lyrik weiche, süßliche Kost, unwürdig eines zum praktischen, zum „politischen“ Leben und Denken erwachten Deutschen?
…
Es giebt eben immer noch Leute – und die Race wird nie aussterben -, welche, nicht zufrieden mit des Tages Treiben, mit Kämpfen und Ringen, über der realen Alltagswelt sich eine ideale Welt aufbauen müssen, welche ein Doppelleben führen …, ernst und streng und gewissenhaft ihrer praktischen Arbeit sich hingeben und dann in stillen, geweihten Stunden des Ausruhens dem Schönen alle ihre Herzenspforten öffnen, welche in der Morgenfrühe in den Wald hinauseilen, im Schatten der Bäume ruhen oder an die See aus der Enge der Stadt sich flüchten, an den murmelnden Wellen träumen oder in die großartige Einsamkeit der Bergesriesen emporstreben und zur Begleitung ein Büchlein mitnehmen, und zwar gerade ein Bändchen lyrischer Gedichte.
Aus: Alfred Biese: Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Berlin: Hertz, 1896
Während Eduard Mautner an den kleinen Freuden des menschlichen Lebens noch immer so regen Antheil nimmt, ergibt sich ein anderer vaterländischer Dichter, Herr Cajetan Cerri, leider immer mehr tiefsinnigen Betrachtungen der bedenklichsten Art, wie die „Rückblicke und Ausblicke“ verrathen, die er in dem neuesten Bande der „Dioskuren“, des poetischen Jahrbuches des Oesterreichischen Beamtenvereins, veröffentlicht. Es ist interessant, daß die meisten österrechichen Dichter früher Beamte waren – ja, Müßiggang ist aller Laster Anfang! Ich glaube nicht, daß die Literarhistoriker schon hierauf ihr Augenmerk gerichtet haben. Nach meiner Ansicht erhalten viele unserer Beamten die dichterische Anregung durch ihre Vertrautheit mit den Schönheiten der Natur, deren geheimnißvolles Walten sie durch fortwährendes Hinausschauen zum Fenster während der Amtsstunden belauschen. Der k.k. Hof-Secretär Cerri hat diesmal die steife Uniform des Verses abgelegt und erscheint im ungezwungensten prosaischen Gedanken-Négligé.
Daniel Spitzer: Wiener Spaziergänge. NFP, 1. Januar 1881, S. 6f.
Der Literarhistoriker
Was nennst du ihn Schurke, alter Brummtopf?
Er verleumdet nicht, er ist nur ein Dummkopf.
Franz Grillparzer, Epigramme 1865
Betty Paoli war, wie bereits erwähnt, bei Sigmund Freud in Behandlung, er wandte an ihr die Elektrisier-Therapie an. Später ließ sich Paoli regelmäßig hypnotisieren, allerdings nicht von Freud, sondern von Ludwig Frey. Der Hausarzt der Familie Fleischl-Marxow und Betty Paolis war Josef Breuer. Über die zahlreichen Krankheiten Paolis und über die diversen Therapien, denen sich die etwas hypochondrisch veranlagte Schriftstellerin unterzogen hat, berichtet Helene Gasser, angestellt im Hause Fleischl-Marxow seit 1864:
Auch über ihre Krankheiten, die Curen, die sie gebraucht hat wäre viel zu schreiben; man hat da sogar was gelernt. Anfangs hat sie im Arm längere Zeit Schmerzen gehabt, […] da hat Dr. Breuer das Massieren verordnet, […] ob es geholfen hat, das weiss ich nicht mehr. […] Einmal frägt mich die gnäd. Frau: „Du, was soll ich dem Frl. zu ihrem Geburtstag kaufen?“ u. ich sage „na, eine Elektrische Maschine.“ „Was fällt Dir denn ein“, hat die Gnädige gemeint. Es hat nicht lange gedauert da war eine da; anfangs hat Dr. Breuer seine geliehn, dann war eine im Hause.
Vor einigen Tagen habe ich davon berichtet, dass die Lyrikerin und Journalistin Betty Paoli von Sigmund Freud „electrifiziert“ wurde. Es handelt sich beim Elektrisieren um eine Behandlung neurologischer Beschwerden, die Freud bei dem Französischen Arzt Jean-Martin Charcot kennengelernt hatte. Was Literatur und Elektrizität miteinander zu tun haben, können Sie in einem interessanten Aufsatz von Rupert Gaderer, derzeit Post-Doc am Graduierten Kolleg Mediale Historiographien (Bauhaus-Universität Weimar, Universität Erfurt und Friedrich-Schiller-Universität Jena), nachlesen.
Tagebuch Ottilie von Goethe, 8. Mai 1855: „Abends kam Fl Glück war sehr amüsant.“
Betty Paoli schreibt am 5. Mai 1888 an Helene Bettelheim-Gabillon:
Ich werde jetzt täglich von Dr. Freud electrifiziert, und genieße die Annehmlichkeit mich jeden Morgen um neun Uhr auf dem Schottenring einfinden zu müssen, denn der Apparat ist so mächtig groß, daß man ihn nicht Tag für Tag transportieren kann.
Kürzlich erschien von mir ein Aufsatz über den einzigen Roman, den Betty Paoli verfasst hat („Die Ehre des Hauses“, 1844). Details können Sie hier nachlesen.
Anfang April 1861: Also um 5 Uhr: Erster Besuch im Salon Laube, zur täglichen Empfangsstunde. Frau Iduna saß auf ihrem Sofaplatz … Laube fragte die Dichterin Betti Paoli, ob es wahr sei, daß … na, irgend etwas, das er über sie gelesen habe. „Ach“, sagte die Paoli, schlug die schönen dunklen Augen gen Himmel und machte einen Zug an ihrer langen Zigarre, „ach nein, das hat ja nur dieser Esel von Cerri geschrieben!“ Laube: „Hier sitzt er!“
Erinnerungen an das alte Burgtheater. Von Auguste Wilbrandt-Baudius. In: Der Greif, 1. Jg., 2. Bd. 1914