Montag, 25. Mai 2020 von Karin S. Wozonig
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Böhmischer Frühling

Im Standard schreibt Michael Stavarič über eine Übersetzung von Karel Hynek Máchas Gedicht Maj aus der Feder von Ondřej Cikán. Über Mácha, der im November 1836 kurz vor seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag starb (vielleicht an der Cholera), sagt ein deutschböhmischer Kollege im Jahr 1844: „Kurz geblüht, das Geschick getragen und erlegen: ein Dichterloos.“ Das Gedicht Maj erschien im Selbstverlag und die zeitgenössische Kritik reagierte zurückhaltend auf die ungewöhnliche Form. Heute ist das Hauptwerk der tschechischen Romantik in Auszügen Pflichtlektüre an tschechischen Schulen.

Die erste deutsche Übersetzung des epischen Gedichts erschien in Libussa. Jahrbuch für 1844, der Übersetzer war Siegfried Kapper, jüdischer Arzt in Böhmen, Dichter in beiden Sprachen und mit Betty Paoli befreundet. Bei Kapper klingt der Anfang des Gedichts so:

Spät Abend – erster Mai – ein Abendmai.
Es war die Zeit, um liebend zu durchirren
Den duft’gen Kieferhain, wo traut und treu
Zur Liebe lud der Turteltäubchen Girren.
Von Liebe flüstern rings die weichen Moose,
Der Liebe Wehe log der Blüthenbaum,
Die Nachtigall sang Liebesklag’ der Rose,
Verduftend still, ein glüher Liebestraum.
Der glatte See, in schatt’ger Büsche Kühle,
Vom Ufer rings umarmt mit stillem Sehnen,
Erbraus’te dumpf verhalt’ne Schmerzgefühle,
Indeß der Sonne Strahlen – Glutguirlanden –
Gen andre Welten irrend, hier verschwanden,
Um dort zu glüh’n, gleich heißer Liebe Zähren.

Wie Ondřej Cikán das Problem des unübersetzbaren poetischen Gefühlsausdrucks gelöst hat, können Sie in diesem Buch nachlesen: Karel Hynek Mácha: Mai (Máj 1836), übersetzt und mit Nachwort versehen von Ondřej Cikán, illustriert von Antonín Šilar, zweisprachige Ausgabe. Ketos-Verlag 2020. Auf der Website des Verlags kann man das Gedicht auch hören.

Samstag, 4. April 2020 von Karin S. Wozonig
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Zurück ins richtige Jahrhundert

Bettina von Arnim berichtet 1823 vom Leben auf dem Land:

Das Schreiben vergeht einem hier, wo den ganzen Tag, das ganze Jahr, das ganze liebe lange Leben nichts vorfällt, weswegen man ein Bein oder einen Arm aufheben möchte. Ich kenne kein Geschäft, was den Kopf mehr angreift als gar nichts tun und nichts erfahren; jeder Gedanke strebt aus der Lage heraus, in der man sich befindet, man fliegt und erhebt sich weit und mit Anstrengung über die Gegenwart und fällt umso tiefer, um so gefährlicher wieder zurück, daß es einem ist, als ob man alle Knochen zerschlagen habe.

Montag, 16. März 2020 von Karin S. Wozonig
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Adalbert Stifters Cholera-Krisenmanagement

Adalbert Stifter aus Lackenhäuser an seine Frau Amalia im 70 Kilometer entfernten Linz:

8. November 1866: … Ich schreibe heute auch an die Marie. Sie soll mir täglich berichten, wie es dir geht, bis Alles ganz vollständig gut ist. Wenn es sich wieder auch nur im Mindesten verschlimmern sollte, komme ich sogleich nach Linz. …

10. November 1866: … Ich packe schon langsam ein, und wenn mich die Furcht vor der Cholera so rasch verläßt wie in den letzten Tagen, so siehst du mich eher, als wir beide gedacht haben. Gebe nur Gott, daß nicht wieder ein neuer Fall vorkömmt. … Sei vorsichtig im Essen und verkühle Dich nicht.

12. November 1866: … Als ich den Brief des Dr. Essenwein, der mit dem deinigen zugleich ankam, gelesen hatte, war mein erster Gedanke, sogleich einzupacken, mit den Moosbauerpferden an dem Tage noch nach Aigen, und dann am nächsten Tage mit dem Aignerwagen nach Linz zu fahren. Allein später sagte ich mir, du würdest erschrecken, wenn ich plötzlich unangemeldet käme, weil du glauben müßtest, der Arzt habe etwas Bedenkliches geschrieben… Ich hatte vor, ehe ich deine Krankheit erfuhr, daß ich, wenn sich kein weiterer Cholerafall ereignet, am Montage oder Dienstage der nächsten Woche zu dir reise. Allein jetzt werde ich es früher tun. …

13. November 1866: … Ich habe ein wenig die Besorgniß gehabt, daß dich die Scene des Wiedersehens etwa zu stark angreifen könnte … Freitags erhältst du wieder einen [Brief], wenn ich nicht etwa unversehens nachmittags selber kommen sollte. …

14. November 1866: … Meine Gesundheit kehrt wieder, ja ich kann sagen, ich bin vollständig gesund. Speise und Trank schmeckt mir außerordentlich gut, ich esse wie Gesunde, und habe keine Beschwerden. Nur die lächerliche Cholerafurcht will mich nicht verlassen, was ich auch mit Verstand und Vernunft dagegen kämpfe. … [S]o z.B. greift mich der jetzige Sturm oder sonstiges Wetter gar nicht mehr an, auch höre ich Nanis Krankengeschichte ganz ruhig an, und so wird auch das stärker Eingewurzelte gewiß verschwinden. Und dann wird Alles gut werden und besser, als es bei uns je gewesen ist, da wir in einer besseren Lage sind. Die einzelnen Cholerafälle um Linz müssen ja bald aufhören, und dann ist das Gespenst dahin. …

15. November 1866: … Es ist Hoffnung auf baldige Änderung des Wetters und auf heiteren Himmel. Dann schmilzt entweder der Schnee, oder er friert, und in beiden Fällen wird wieder eine gute Fahrbahn, und auch eine Lust zum Reisen. Nach dem jetzigen Stande der Dinge kann ich Dir aber auch in diesem Augenblicke meinen Abreisetag nicht melden. … Das Entbehrliche ist eingepackt, mit dem Andern bin ich in ein paar Stunden fertig. … Es ist auch keine Nervenerregung mehr vorhanden, als die Scheu vor allem Unruhigen und Unangenehmen, besonders die Cholerafurcht, aber selbst diese Dinge fühle ich sich mindern, wie ich denn schon manches Traurige ruhig erzählen hören kann. …

16. November 1866: … Es wird sich zeigen, wie die Merkmale heute nachmittags sind. Jedenfalls bestelle ich den Wagen auf Montag, und fahre dann auch bei schlechtem Wetter, nur nicht bei heftigem Sturme. … Wenn wider Vermuthen warmes ruhiges Wetter bleibt, und noch ein Tag darauf erträglich zu werden verspricht, dann fahre ich plötzlich fort, und zwar mit dem Moosbauerwagen und Weichselbaumpferden nach Aigen, und des andern Tages von Aigen nach Linz. …

17. November 1866: … Nach diesem Briefe bekömmst du noch einen am Dienstage vormittag, und an demselben Tage nachmittag bekömmst du mich selber, außer es kömmt heute oder morgen eine Nachricht, auf die ich sogleich abreise, oder es stürmt am Montage dermaßen, daß ich nicht fortkann
Tausend, tausend Dank, du liebes gutes Weib! Der Seppel kam gestern noch vor 8 Uhr, und brachte deinen herzigen Brief. … Jetzt mag es draußen stürmen wie es will, jetzt ist mir Barometerstand und Thermometerstand nicht mehr so wichtig wie dieser Tage, und wenn sich meine Abreise auch um einige Tage verzögert, so trage ich die Verzögerung gerne, weil du nur wieder gesund bist. … Sei ganz beruhigt, ich werde nur bei gutem Wetter und auch da sehr vorsichtig reisen. …

18. November 1866: … Wahrscheinlich sind diese Zeilen die letzten, die du von den Lakenhäusern von mir erhältst … Obwohl ich die Lehrerin von Aigen um Antwort gebeten habe, so ist doch bis jetzt (2 Uhr) keine da. Wenn etwa darin noch ein Hinderniß wäre, daß ich den Wagen nicht bekäme, so sei nicht besorgt, wenn ich Dienstags nicht käme. …

19. November 1866: … Da ich nach Aigen geschrieben habe, daß der Wagen nur bei schönem Wetter kommen soll, so wird er nicht kommen, und wenn er käme, so könnte ich nicht reisen. … So sitze ich nun da, und könnte mich recht gut auf den gepackten Koffer setzen. Nur Briefpapier ließ ich indessen heraußen. … Ich hatte gegen das rasche Steigen des Barometers Mißtrauen gehabt, und es hat sich bewährt. Das Thermometer steht eine Kleinigkeit über 0, also wird es bei euch regnen, und kann bei uns jeden Augenblick in Regen übergehen. … Ich kann dir nur sagen, daß ich an dem ersten schönen Tage von hier fortreisen werde. Ich darf meine Gesundheit durch ein Unwetter nicht gefährden. … Der Wagen von Aigen kam aber, und zwar der halbgedeckte. Der Kutscher sagte, daß es in Aigen ganz schön gewesen ist, was gewiß nicht wahr ist. … Während der zwei Stunden seines Hierseins ist es natürlich noch schlechter geworden, und ich mußte ihn leer nach Aigen zurückgehen lassen. … Vielleicht kann ich übermorgen fort.

20. November 1866: … Vielleicht ist doch morgen Erlösung, und dann bringe ich dir diesen Brief selber. … Alles ist in Bereitschaft. Was noch in den Koffer gehört, ist in einer halben Stunde drinnen … Ist es morgen schön, so bringe ich dir [diesen Brief] am Donnerstage. Erhältst du ihn am Freitage vormittags, und ist es am Donnerstag vorher schön gewesen, so komme ich am Freitage zum Nachmittagskaffeh, haltet mir einen bereit.

21. November 1866: … Ich muß nun geduldig harren, bis ich fort kann… Und wenn meine Meldungen über dieses Unwetter zu euch kommen, ist es vielleicht schon vorüber, und ich bin auf dem Wege zu Dir… Ich hoffe wohl, daß ich Samstag Abends bei dir bin; aber das Unglück könnte es doch fügen, daß ich noch hier bin, und welche Erquickung wäre es mir da, einige Worte von dir zu erhalten. …

Fünf Tage später kommt Stifter nach Linz und bleibt dort für drei Tage. Dann fährt er in das ca. 15 Kilometer von Linz entfernte Kirchschlag und schreibt:

30. November 1866: … Ihr sollt in Freud und Leid mit einander tragen, war der Spruch bei der Vermählung, und ich verlasse dich aus thörichter Furcht vor einer möglicher Weise ausbrechenden Krankheit. Das darf ich nicht thun. Mein Herz macht mir Vorwürfe, und erregt mir bittere Unruhe. … Es wurde daher mein Entschluß gefaßt, daß ich wieder zu dir zurück kehre. Um Aufsehen in Kirchschlag zu vermeiden, nehme ich mir vor, ein paar Tage hier zu bleiben. Ist aber mein Gefühl zu heftig, als daß ich es tragen könnte, so komme ich morgen wieder zu dir, und kündige dir das durch den Wasserfuhrmann an, damit du nicht erschrickst, wenn ich plötzlich komme. Weil aber auch der andere Fall möglich ist, daß ich erst in ein paar Tagen komme, so bitte ich dich, schreibe mir durch den Fuhrmann zwei Zeilen … also wäre ich lediglich aus Cholerafurcht hier und das darf nicht sein. … Ich fühle mich in diesem Beschluße sehr gestärkt… Denke, bis ich komme, Deines treuen Gatten Adalbert Stifter
[Nachschrift] Sende aus Vorsicht auf 3 Tage Semmeln, hier ist nur Hausbrod…

Sonntag, 8. März 2020 von Karin S. Wozonig
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Keine psychologische Erörterung zum Frauentag

Hieronymus Lorm: Meditationen über deutsche Lyrik, 1877:

Von der Untersuchung … schließe ich die Büchlein mit weiblichen Autornamen aus. … Edle Frauen mit genialen – Ansprüchen bedenken selten, daß ihr Ehrgeiz an zwei Tafeln zugleich schwelgen will, an der des moralischen wie an der des artistischen Ruhmes, daß aber die gute Meinung, die man einem Buch von ihnen entgegenbringt, von der anderen Seite die schlechtere Meinung ist, die man ihrer Persönlichkeit widmet, weil der Rang, den man der weiblichen Tugend und der Rang, den man der Kunst flicht, beinahe zwei einander ausschließende Sphären sind. Talent haben ist schon an sich eine Tragödie, setzt einen Zwiespalt, oft einen schuldvollen Bruch mit den normalen oder mindestens mit den herkömmlichen Gesetzen des Lebens theoretisch voraus und führt ihn praktisch herbei. Es bedarf weiter keiner psychologischen Erörterung, daß der Schauplatz für die höchsten dichterischen oder mimischen Darstellungen nicht das Gynaikeion sein kann.

Dienstag, 21. Januar 2020 von Karin S. Wozonig
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Davon kann man nicht leben

Die österreichische Autorin Betty Paoli (1814-1894) beobachtete in ihrer Lebens- und Schaffenszeit den Wandel von der Verbundenheit zwischen Autoren bzw. Autorinnen und ihren Leserinnen und Lesern hin zum literarischen Massenmarkt ohne persönliche Bindungen. Parallel dazu veränderte sich das Rollenverständnis der Dichterinnen und Dichter. Paoli war von diesen Entwicklungen durch ihre Lyrikproduktion selbst betroffen und machte die Beziehung zwischen Künstlern und ihrem Publikum auch zum Thema ihrer Dichtung. Außerdem fanden exemplarische Darstellungen von Autorenbiographien ihren Niederschlag in Paolis Prosa. Und schließlich stellt Paoli als Journalistin einen Teil ihrer publizistischen Arbeit in den Dienst der Analyse und Verbesserung der Produktionsbedingungen von Autorinnen und Autoren. Diese vielfältige Befasstheit Betty Paolis…

weiterlesen: Karin S. Wozonig: Betty Paoli. Zwischen Genie und Schillerstiftung. In: Frank Jacob und Sophia Ebert (Hrsg.): Reicher Geist, armes Leben. Das Bild des armen Schriftstellers in Geschichte, Kunst und Literatur. S. 53-67
Montag, 30. Dezember 2019 von Karin S. Wozonig
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Noch mehr Nützliches für Kritikerinnen

Schade! daß an die Stelle der schönen Erzählung in Briefen …, womit der vorige Jahrgang die Leser freundlichst begrüßte, heuer eine minder gelungene Novelle … treten mußte, der wir, ungeachtet des ihr anderwärts (Nro. 241 des „Humoristen“) ertheilten überschwenglichen Lobes, gar keinen Geschmack abzugewinnen vermochten. Dagegen stimmen wir den dort ausgesprochenen Bemerkungen über die zweite voluminöse Erzählung von Adalbert Stifter: „Feldblumen“ unbedingt bei, da wir sie ihrer Länge wegen gar nicht gelesen haben.

Mnemosyne. Galizisches Abendblatt für gebildete Leser, 1840
Sonntag, 29. Dezember 2019 von Karin S. Wozonig
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Nützliches für Kritikerinnen

Die buchhändlerische Anpreisung eines neuen Romans schließt mit den Worten: „Wir sind überzeugt, daß Jedermann mit Vergnügen dieß Buch aus der Hand legen wird.“

Mnemosyne. Galizisches Abendblatt für gebildete Leser, 1840
Sonntag, 22. Dezember 2019 von Karin S. Wozonig
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Freundschaft und Politik in bewegten Zeiten

Betty Paoli und Adalbert Stifter 1848

Im März 1848 begann in Wien die sogenannte bürgerliche Revolution. Was anfangs nach einer halbherzigen intellektuell-kulturellen Befreiung einer Elite aussah […], entwickelte sich zum Aufstand der Massen und lief aus Sicht der gebildeten Privilegierten aus dem Ruder. Auch der Maler und Schriftsteller Adalbert Stifter befand sich im Jahr 1848 in Wien und war dort politisch tätig. […] Am 6. Mai flüchtete er aber vor den Unruhen […] nach Linz […]. Im Mai des Revolutionsjahres schrieb Stifter an seine Wiener Kollegin und Freundin Betty Paoli, sie solle zu ihm nach Linz kommen…

Und was dann passiert ist, können Sie hier nachlesen: Journal of Austrian Studies, Vol. 52, No. 3, S. 1-18. (JAS online)

Sonntag, 22. September 2019 von Karin S. Wozonig
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Literarischer Quicktipp

Über das neunzehnte Jahrhundert gibt es ja so viel zu sagen. Lang war es und turbulent und so gut wie alles, was uns heute eine Selbstverständlichkeit ist, ist damals wenn nicht erfunden, so doch perfektioniert worden, das Lottospiel zum Beispiel. Die eine oder andere Sache hat sich, das muss man zugeben, nicht gehalten, zum Beispiel wird die Brieftaube nicht mehr so häufig eingesetzt. Aus der Kombination von beidem, Lotto und Brieftaube, hat sich Johann Carl (Freiherr von) Sothen (1823-1881), ganz nach dem liberalen Jeder-ist-seines-Glückes-Schmied-Prinzip, ein Vermögen, tja, man kann es nicht anders sagen: erschwindelt – so sagte man, so kann man auf jeden Fall sagen, wenn man es in einem Roman sagt. Sothens Leben verlangt förmlich nach einer literarischen Bearbeitung und die ist jetzt zum zweiten Mal (nach Anna-Elisabeth Mayers Buch „Am Himmel“) erfolgt: Bettina Balàka: Die Tauben von Brünn. Kurzweilig, sprachlich interessant, Lokal- und Zeitkolorit in feinen Strichen und Schattierungen, historische Details ohne dick aufgetragene Belehrung, gelungener Epilog, eine Empfehlung.

Donnerstag, 19. September 2019 von Karin S. Wozonig
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Upcycling im Vormärz

Alles redet von Umweltschutz. Weniger Sachen produzieren wäre ein guter Anfang, Mehrfachverwendung schont die Ressourcen. Aber das geht ja nicht, die Qualität stimmt einfach nicht mehr, heutzutage, alles ist nur mehr für den schnellen Konsum gemacht.

Ja, daß ich Ihnen sag‘, das war’n noch Zeiten, vor denen man ein‘ Respekt hat hab’n können! Billig und doch gut und solid, das war die Maxim‘ von die damaligen G’schäftsleut! Hat sich einer ein Tuch beim „Primas“ g’kauft, das war gar nicht zum umbringen. Aus ein‘ Mantel ist nach zwanzig Jahr ein nagelneuer Kaput word’n; aus’n Kaput, wann’s ‘n ein 10  Jahr trag’n haben, hat der Schneider den schönsten Gehrock g’macht. Aus’n Gehrock ist mit der Zeit ein sehr honetter Frack, aus’n Frack einmal ein Leibl, aus’n Leibl ein‘ Weste und zu guter Letzt aus der Weste ein saubers Paar Winterschuh‘ für d‘ Frau außerg’schnitt’n word’n und das Restl war noch wie ein Brett. Schau’ns den Povel von heut an. Kaufen’s Ihnen so ein Jaquettl oder so ein Paletoterl, oder wie das moderne Gfraßt heißt, so müssen’s Ihnen schön tummeln, daß’s es ganzer z’Haus bringen, wann der Wind nicht doch vielleicht am Weg d’Woll‘ wegblast….

So spricht der „Original-Wiener“ in Friedrich Schlögls „Wiener Luft!“ von 1875.

Glossar:
„Primas“ = Tuchhandlung „Zum Primas von Ungarn“
Kaput = kurzer Mantel, Soldatenmantel
Povel = schlechte Ware, Ausschuss (verwandt mit dem Wort „Pöbel“)
Jaquettl  = Verkleinerungsform von Jaquette/Jackett, eine kurze Jacke
Paletoterl = Verkleinerungsform von Paletot, Überrock
Gfraßt = hier: schlechtes Zeug, Rest