Mittwoch, 28. März 2018 von Karin S. Wozonig
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Literatur über das Klügerwerden in Kriegszeiten

Wir sollten wieder einmal über österreichische Gegenwartsliteratur sprechen. Nicht nur der neue post-postkoloniale Roman von Thomas Stangl, sondern auch der neue Roman von Arno Geiger ist lesenswert.

Geigers Protagonist namens Veit Kolbe macht in Zeiten der körperlichen Versehrtheit und der Mangelernährung (er ist ein verwundeter Wehrmachtssoldat, der Roman spielt im Jahr 1944) das, was Ernst von Feuchtersleben als wichtigen Bestandteil der Diätetik der Seele empfohlen hat: Er gibt sich regelmäßig schriftlich Auskunft über seine Taten, seine Gedanken und seine Gefühle. „Was ist das für ein Mensch, der immer nur an Papier und Tintenduft denkt?“ fragt sich Margot, die Frau an seiner Seite (anfangs nur im Sinne von Zimmernachbarin). Wir wissen es am Ende des Buchs ziemlich genau und auch Veit kennt sich nach den paar Monaten viel besser als vorher und weiß mehr von der Welt. Er erzählt sich seine Vergangenheit und Gegenwart, nicht schlicht therapeutisch, sondern um sich einen Begriff vom Unbegreiflichen zu machen.

Veit ist vierundzwanzig Jahre alt, durch den Krieg am Studium gehindert und gezwungen, die Zeit, in der er sich kennenlernen und seinen Platz suchen hätte sollen, durch Russland marschierend und in Schützengräben liegend zu verbringen. Und jetzt sehen wir, wie er grundsätzliche Wahrheiten über die Menschen entdeckt, Einsichten, die nichts mit der Extremsituation des totalen Kriegs zu tun haben, sondern die tägliche, zivile Grausamkeiten sind, ohne die es keinen Krieg gäbe. Er ist jung, die wichtigsten Erfahrungen in seinem bisherigen Leben sind Verlust, Not, Schmerz, Angst. Er ist Täter und Opfer.

Die zentrale Stelle des Romans kommt eher unscheinbar daher. Der Protagonist erkennt, dass er auf den Kern der Sache und des Kriegs gestoßen ist und kennt seine Grenzen. Meines Erachtens ist das eine der klügsten Passagen in diesem Roman über das Klügerwerden unter widrigen Umständen:

Man müsste sich einmal die Zeit nehmen und darüber nachdenken, ob nicht vielleicht Selbstmitleid und Verächtlichkeit die eigentlich fatalsten Gefühlsgeschwister sind im Leben der Menschen. Man müsste diese Frage einmal gründlich ausloten, ich selbst traue mir nicht zu, hier auf Grund zu stoßen. Nicht ich. Aber vielleicht ist’s einem anderen vergönnt.

Mittwoch, 31. Januar 2018 von Karin S. Wozonig
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Adalbert Stifter mit Hut

Es soll Menschen geben, die jeden Sonntag Tatort schauen wie andere Columbo (mit oder ohne Pyjama). Und diese Menschen haben sich einige Zeit lang gefragt, warum das StifterHaus in Linz (bitte beachten Sie die schöne neue Website) Axel Milberg einlädt, um Briefe von Adalbert Stifter zu lesen. Ich hingegen bin ganz unvoreingenommen in den gestrigen Abend gegangen, denn ich habe keine Ahnung gehabt, wer Axel Milberg ist. Jetzt weiß ich es: Er ist ein Profi.

Nach einer schön kompakten und informativen Einleitung durch Petra Dallinger, Direktorin des Adalbert-Stifter-Instituts, hat Milberg dreizehn Briefe aus unterschiedlichen Lebensphasen Stifters gelesen und den Ton meiner Meinung nach dabei sehr gut getroffen. Natürlich kann man nur vermuten, wie es bei Stifter geklungen hätte, denn Stifter ist ja selbst eine Kunstfigur wie seine Kunstfiguren, auch wenn sie Betty Paoli und die Fürstin Schwarzenberg sein könnten. So wie wir alle Kunstfiguren sind, entweder aus eigenem Antrieb (Stichwort self-fashioning) oder weil uns andere ansehen, bei Stifter z.B. Literaturwissenschaftler. Dass Stifter uns quasi lebendig vor Augen getreten ist, war nicht nur Verdienst des Schauspielers, sondern lag auch daran, dass die Briefe sehr gut ausgewählt waren.

Der eine Brief von Stifter an Paoli war nicht dabei. Wieder einmal könnte ich die Frage aufwerfen, warum sich die beiden nach anfänglicher gegenseitiger Verehrung aus den Augen verloren haben. Wahrscheinlich war es der Freundschaft nicht zuträglich, dass Paoli in ihrer Funktion als einflussreiche Kritikerin Adalbert Stifter keine positive Besprechung seiner Werke gegönnt hat. Aber wenigstens auch keine negative. Jaja, so war sie.

Donnerstag, 25. Januar 2018 von Karin S. Wozonig
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In der Haut des Architekten

Thomas Stangl hat einen neuen Roman geschrieben. Er spielt (im mehrfachen Wortsinn) in Afrika, in einer Stadt mit dem Namen Belleville, in der Französisch die Kolonialsprache und vielleicht Ewe die richtige Sprache ist. Aber diese Eckdaten sind gar nicht wichtig. Alles, was es über die Stadt zu wissen gibt, wenn man wie der Protagonist als Europäer dorthin zu einem Kongress fährt, wird uns beschrieben. Der Sand auf den Straßen, die Struktur der Mauern, die Gerüche, die Farben der Hühner, der Weg zum Meer; alles nimmt der Architekt deutlich und überdeutlich wahr. weiterlesen

Dienstag, 23. Januar 2018 von Karin S. Wozonig
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Was wäre Stifter ohne Paoli?

Über Adalbert Stifter könnten wir eigentlich auch wieder einmal reden. Vor allem jetzt, wo sich bald sein Todestag zum hundertfünfzigsten Mal jährt. Aber was wäre Stifter ohne Paoli? Daher: Grüße aus der Ferne. Betty Paolis „Deutsche Briefe“ 1848.

Mittwoch, 27. Dezember 2017 von Karin S. Wozonig
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Thomas Stangls Berühmtheit

Als Leserin oder Leser dieses Blogs sind Sie sicher auch an der Frage interessiert, was gute Literatur ist. Und wenn Sie sich intensiv damit beschäftigt haben, dann werden Sie wahrscheinlich auch wissen, dass diese Frage nicht nur unbeantwortbar, sondern dass sie eine gute Frage ist. Gute Fragen sind daran zu erkennen, dass sie neue Fragen aufwerfen. (Deshalb kann man sich mit manchen Themen, z.B. der Chaostheorie, nie abschließend befassen.) Im konkreten Fall wirft die Frage nach der guten Literatur die Frage auf, was denn an schlechter Literatur schlecht ist. Und noch interessanter: Warum wird Literatur, die in ihrer Zeit eine große Leserschaft erreicht hat, mit einigem zeitlichen Abstand neu bewertet? Wie kann es sein, dass allgemein für gut gehaltene, auf jeden Fall aber gern und viel gelesene Literatur einer späteren Generation nach poetologischen und ästhetischen Kriterien nicht mehr gut erscheint?

Das sind auch die Fragen, die im Rahmen der Serie „Zu Recht vergessen“ in der Literaturzeitschrift Volltext gestellt werden. Im zweiten Teil der Serie schreibt der Autor Thomas Stangl luzide über Werner Bergengruen und befasst sich mit emotionalen, intellektuellen und formalen Vorbehalten gegenüber dem Werk Bergengruens. Stangl schreibt über die komplizierte Differenzierung zwischen ideologischen und ästhetischen Einwänden (denn allzu simpel ist es, ein gelungenes Werk abzutun, weil sich sein Autor oder seine Autorin mit der falschen Ideologie, z.B. einer menschenverachtenden Denkweise, gemein gemacht hat), und er zeigt, dass Literatur, die „zu Recht vergessen“ ist, erst einmal Qualitäten haben muss, die aus heutiger Perspektive schwerer zu erkennen und zu benennen sind, als jene der Literatur, die den Kanon (i.e. Maßstab) für gute Literatur bildet.

Auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist es eine einfachere Aufgabe, zu erklären, was an Goethe dran ist, als zu erklären, was die Wirkung von Bergengruen, den „Goethe der Fünfzigerjahre“, ausgemacht hat und immer noch ausmacht. Denn dass Bergengruen auch heute noch seine Anhänger hat, das schreibt Thomas Stangl auch, und zwar mit dem schönen Satz: „Werner Bergengruen ist nicht wirklich vergessen, er hat immer noch wesentlich mehr Leser als, sagen wir, ich selbst;“

Lassen Sie mich wieder einmal eine Empfehlung für die Literatur von Thomas Stangl aussprechen, ganz besonders für „Der einzige Ort“. Auch seine Essays zum Leben und zum Schreiben, z.B. in „Freiheit und Langeweile“, sind absolut lesenswert. Und mit Spannung erwarte ich seinen neuen Roman: Fremde Verwandtschaften, vom Verlag angekündigt als

Kunstwerk, eine groß angelegte Reflexion über das Sein, voller Details und Feinheiten, doppelter Böden und versteckter Gänge.

Montag, 20. November 2017 von Karin S. Wozonig
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„Träume von einem wunderschönen, fix und fertigen, süßen, kleinen Feuilleton“

Wenn man die völlige geistige Pleite durch einen Kredit bei einem Feuilleton abgewendet hat, kann man eine Rezension über eine Sammlung von Feuilletons schreiben.

Freitag, 17. November 2017 von Karin S. Wozonig
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Feuilleton gegen geistige Pleite

Tage, an denen einem nichts einfällt, die gibt es. Nicht einmal zu einem Thema, das man interessant findet, hat man eine Idee. „Handwerker der Feder kennen ihn ja nur zu gut“, diesen Zustand der „geistigen Pleite“:

Kaum hat man morgens die Augen aufgeschlagen, weiß man es schon, ob solch ein Tag geistigen Ascheregens anbricht; aber man tut natürlich, als merke man es nicht, nur um Gotteswillen nicht zugeben! Pfeifend setzt man sich an den Schreibtisch.

Da kann man zunächst noch allerhand Ablenkendes vornehmen: die Bleistifte sind stumpf, der Füllfederhalter ist leer, die Maschine muss ein wenig geputzt werden; auch kann man mit dem Ordnen der Papiere ganz gut eine halbe Stunde zubringen, und hat man Glück, so telefoniert es ein paarmal. Aber schließlich doch kommt der Augenblick, wo man, am Bleistift nagend, sitzt und die Leere des eigenen Hirns einem in den Ohren dröhnt.

Auf der Aschenschale wächst ein Berg von Zigarettenstummeln, das Papier füllt sich mit kleinen Männchen, Pudelhunden und Monden, in der Seele schwillt Verzweiflung. Ein Königreich für ein Feuilleton!

Das Zitat stammt von Sophie von Uhde, der Text „Jagd nach einem Feuilleton“ ist 1930 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschienen und wurde von Hildegard Kernmayer und Erhard Schütz in die lesenswerte Anthologie „Die Eleganz des Feuilletons. Literarische Kleinode“ (Berlin 2017) aufgenommen. Mehr fällt mir dazu heute nicht ein.

Montag, 25. September 2017 von Karin S. Wozonig
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Ebner-Eschenbach – Knorr – Briefwechsel: Schatzgrube für die Forschung

Ein Rezensent, dessen Besprechungen ich immer gern lese, hat sich gewissenhaft und mit Gespür für die Geschichte einer Freundschaft des von Ulrike Tanzer, Irene Fußl, Gabriele Radecke und Lina-Maria Zangerl edierten und kommentierten Briefwechsels von Marie von Ebner-Eschenbach mit Josephine von Knorr angenommen.

Dienstag, 29. August 2017 von Karin S. Wozonig
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C. F. Meyers Buchmarketing

Conrad Ferdinand Meyer an seinen Verleger Hermann Haessel:

Haben Sie Recensirex. an die N. Zürcher Zeitg gesendet? U: Betty Paoli vergeßen Sie nicht!

Betty Paoli schreibt eine Rezension über die dritte Auflage von Huttens letzte Tage für die „Presse“.

Louise von François an C. F. Meyer:

Ich weiß, daß weibliches Urteil und weiblicher Preis männlichen Ohren verdächtig klingen und einem namhaften Dichter schwerlich genehm sind. Mit dem Artikel des Frl. Paoli – Ihrer großen Bewundererin – mache ich eine Ausnahme. Wenn eine Oesterreicherin und Katholikin den Hutten, sei es auch nur als Dichtergebild, ihren österreichischen, katholischen Landsleuten zur gerechten Würdigung empfiehlt, das ist ein Zeichen seltener Geistesfreiheit und daß die Poetennatur bei ihr „zu unterst“ liegt.

Weitere Marketingmaßnahmen sind das Thema der Briefe zwischen Meyer und Haessel, gedruckt in der historisch-kritischen Ausgabe, Band 4.3. Eine Rezension dazu können Sie hier lesen.

Montag, 21. August 2017 von Karin S. Wozonig
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Sommerfrischlers Nord-Süd-Gefälle

Wer z.B. unsere steierischen Dörfer seit dreißig Jahren heute das erstemal wiedersieht, der wird sie kaum mehr erkennen. Das allgemeine Aufstreben hat auch das Bauernthum ergriffen, und dort – insofern es die Leute nicht vom Bauernstand hinaus, sondern eigentlich erst in denselben emporgehoben hat – erfreuliche Umgestaltungen hervorgebracht. … Jeder kann nicht „Herr“ sein, aber man ist auch im Bauernstand ein freier Mann; Jeder kann nicht in einem Stadtpalast wohnen, aber man hebt auch in der Hütte an, menschenwürdig zu leben. Im Unterlande der Steiermark – besonders im fruchtbaren Lande der Slovenen – läßt diese „Menschenwürdigkeit“ freilich noch sehr viel zu wünschen übrig, und was die Zustände der Bauernhäuser und Dörfer anbelangt, erinnere ich mich an den Ausspruch jenes boshaften Fremden: die Grenze zwischen Europa und Asien gehe mitten durch die Steiermark. Das Unterland hat paradiesische Gegenden, wer weiß es nicht! und doch wird sich selten ein städtischer Sommerfrischler in eine jener Bauernschaften verirren, wenn er in derselben nicht etwa sein Winzerhaus oder sein Schloß hat; während die obersteierischen Dörfer, kaum minder als die salzburgischen, tirolischen und kärntnerischen, selbst die entlegenen, bescheidenen, sich von Jahr zu Jahr mehr mit Städtern füllen. … Zum Theile für solche Gäste ist es berechnet, wenn die Häuser und Dörfer von Jahr zu Jahr hübscher und einladender herausgeputzt werden. … Gewiß ist, daß der Bauer den materiellen Vortheil zu schätzen beginnt, und dass manche oberländische Ortschaft ein gutes Sommerfrischjahr einer guten Ernte vorzieht.

Peter Rosegger: „Von dem Verhältnisse unserer Bauern zu den Sommerfrischlern“. In: Bergpredigten. 1885