Dienstag, 30. Juni 2009 von Karin S. Wozonig
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Raum und Literatur 2. Teil

„Stark vereinfacht könnte man als nächsten Befund aufstellen: Orte der Handlung können erfunden oder nicht erfunden sein. Gehen wir davon aus, dass wir uns einig sind, was ’nicht erfunden‘ bedeutet. Jetzt ist es natürlich interessant zu fragen: Was bedeutet ‚erfunden‘? Es gibt die Möglichkeit zu behaupten, dass alles was in einem literarischen Text steht, erfunden ist, weil es das Charakteristikum von Literatur ist, nicht wahr zu sein – schon allein deshalb, weil es sich ja nur um Zeichen (Buchstaben, Wörter…) handelt. Aber da kann man ganz schön in die Bredouille kommen. Erstens weil auch in einer völlig frei erfundenen Handlung immer in der Wirklichkeit existierende Gegenstände vorkommen, sonst würden wir gar nicht erkennen worum es geht. Zweitens, weil es durchaus auch Literatur gibt, die deshalb funktioniert, weil sie gerade nicht nur erfunden ist […].

Kurz gesagt, ’nicht erfunden‘ ist nicht eindeutig. Dafür benützt die Literaturwissenschaft das schöne Wort Fiktionalität. Fiktionalität bezeichnet eine Aussage, die keinen Wahrheitsanspruch erhebt. Das bedeutet: Die Gegenstände, über die die Aussage etwas aussagt, müssen nicht existieren. Das bedeutet aber auch: sie können existieren. Das hat interessante Folgen: Fiktionalität ist ein relationales Kriterium, es steht in Relation zur Wirklichkeit. Und wegen der sich daraus ergebenden Offenheit (sie kann erfunden sein oder eben auch nicht), hat Fiktion – also Literatur – die Eigenschaft, wahrer zu sein, als die Wirklichkeit. Aber das ist ein zu weites Feld, fürchte ich, ich kehre zum Ort zurück.

Ich versuche es so auszudrücken: Orte in der Literatur sind Mischformen aus erfundenen und nicht erfundenen Orten, die im Kopf von Autorinnen/Autoren oder Leserinnen und Lesern entstehen. Durch die Relationalität von Fiktionalität ergibt sich: An der Sprache allein kann man nicht erkennen, ob ein Ort in der Literatur erfunden ist oder nicht.“

Auszug aus: Karin S. Wozonig: Einleitung zum Kaffeehausgespräch am 17. Juni 2009, Thema: Mit anderen Augen. Orte in der Literatur

Donnerstag, 25. Juni 2009 von Karin S. Wozonig
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Ebner-Eschenbach, Paoli und Annette von Droste-Hülshoff

Aus dem Tagebuch von Marie von Ebner-Eschenbach, 6. 5. 1876:

Vormittag in strömendem Regen zu Betty Paoli, Tante Louise u. Dr Pachler. Betty P. hatte sehr anerkennende u. verehrungsvolle Briefe von Anast: Grün, Wüllerstorf u. Levin Schücking erhalten, wegen ihres schönen Aufsatzes über An: v. Droste in der Heimat.

Montag, 22. Juni 2009 von Karin S. Wozonig
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Raum und Literatur 1. Teil

„Der Ort in der Literatur, der war immer schon interessant für die Literaturwissenschaft, aber in den letzten Jahren ist er besonders intensiv untersucht worden, denn seit der Mitte der 1990er Jahre ungefähr fühlen sich viele LiteraturwissenschaftlerInnen als KulturwissenschaftlerInnen, das heißt: zuständig für mehr als nur für literarische Texte. Sie schauen über den Tellerrand hinaus und sehen, was die anderen machen. Und die anderen – die Soziologie z.B. – haben etwas entdeckt, was zum Spatial Turn führte: der Raum – in der Einzahl – wurde als wissenschaftliches Objekt immer interessanter. Für die Literaturwissenschaft heißt das, neben dem literarischen Schauplatz werden auch „Kultur-“, „Kommunikations-“ und „Gedächtnisräume“ interessant. Raum wird also als kulturelle Größe gesehen, was uns völlig einleuchtend erscheint, weil ja auch in der Alltagssprache Raum und Bedeutung zusammengehören – wir orientieren uns ja darin, und sei es, indem wir „über den Tellerrand schauen“. Oder wenn wir hier im Salon gleich über Orte in der Literatur sprechen werden, und vielleicht einige von Ihnen eine Meinung „in den Raum stellen“ werden.“ (Fortsetzung folgt)

Auszug aus: Einleitung zum Kaffeehausgespräch am 17. Juni 2009, Thema: Mit anderen Augen. Orte in der Literatur

Montag, 15. Juni 2009 von Karin S. Wozonig
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Und wer war Carl von Fleischl-Marxow?

Aus dem Tagebuch von Marie von Ebner-Eschenbach, 23. Juni 1893:

Ida sagte gestern: Weißt du was Karl war? er war Abrahams Schoß. Alle Sorgen die mir weggeräumt werden konnten, jede Mühe, jede Unannehmlichkeit nahm er auf sich. Unabhängiger als ich ist nie eine Frau gewesen. Wenn ich einen Wunsch aussprach, war er im selben Augenblick – sein Wunsch.

Freitag, 5. Juni 2009 von Karin S. Wozonig
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Nochmals Tarock oder Der gute Mensch in der Rotenturmstraße

Aus dem Tagebuch von Marie von Ebner-Eschenbach, 16. 5. 1875:

Nachm. kam Ida u. Betty Paoli, wir plauderten bis Moriz sich einfand, der eine Partie Tarok proponirte, u. es wurde bis 8 Uhr gespielt. B. P. hatte ein ganz horrendes Unglück „Das geht über meine Verhältnisse!“ Moriz behauptete, ich hätte verstohlen ihre Marken aus unseren Büchsen in die ihre zurück escamotirt.

Montag, 1. Juni 2009 von Karin S. Wozonig
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Chaostheoretische Literaturwissenschaft als Kulturanalyse

Von ihrer ersten Formulierung in den 1970er Jahren an übte die sogenannte Chaosforschung eine starke Anziehungskraft auf Geisteswissenschaftler(innen), Philosoph(inn)en und Soziolog(inn)en aus. Der Lorenz-Attraktor, Iteration, Bifurkation und die Beschreibung von Dynamiken der Selbstorganisation haben auch die Aufmerksamkeit von Literaturwissenschaftler(innen) geweckt. Von den Anfängen bis zum Ende der 1990er Jahre wurden literaturwissenschaftliche Arbeiten, die von der sogenannten Chaosforschung inspiriert waren, oft mit der Bemerkung geschlossen, es werde sich erst in Zukunft weisen, ob der Ideentransfer aus der Naturwissenschaft die Literaturwissenschaft bereichern könne, ob die Terminologie der „neuen Physik“ etwas zur Analyse des Gegenstandsbereichs und zur Erklärungsmacht der Disziplin würde beitragen können. Mittlerweile lässt sich feststellen, dass der Ansatz „chaostheoretische Literaturwissenschaft“ einige Einsichten in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft und sehr viele in die Disziplin bringt. Darüber hinaus kann konstatiert werden, dass ihre Einfügung in ein Repertoire kulturanalytischer Instrumente die „chaostheoretische Literaturwissenschaft“ zur methodischen und theoretischen Bereicherung einer Literaturwissenschaft im Rahmen der Kulturwissenschaften macht.

Auszug aus der deutschen Fassung von: Karin S. Wozonig: Teória chaosu a literárna veda. In: Slovak Review of World Literature Research 2/XVI (2007) S. 35-43. Übersetzt von Roman Mikuláš

Mittwoch, 27. Mai 2009 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli über Zufall, Ordnung, Chaos und die Poesie

Die Wirklichkeit mit ihren tausend Zufälligkeiten ist gleichsam ein Nebel, der unseren geistigen Blick beschränkt, beirrt und ihn hindert, die Erscheinungen in ihrer Totalität aufzufassen. Die Poesie hat den Beruf, ihn mit ihrem mächtigen Odem zu zerstreuen und aus dem wüsten Chaos eine von ethischen Gesetzen beherrschte Welt zu schaffen.

Aus Betty Paoli: „Božena“. In: Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Eingeleitet und herausgegebene von Helene Bettel-Gabillon. Wien 1908 (Erstdruck in der Beilage zur Augsburger Allgemeinen Zeitung, 1876)

Sonntag, 24. Mai 2009 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli intertextuell

Auf dem Portal readme.cc ist eine Besprechung des Romans „Schloß und Fabrik“ von Louise Otto-Peters zu lesen. Den 23 Kapiteln dieses Buchs sind Zitate aus Werken zeitgenössischer Autorinnen und Autoren vorangestellt. Vertreten sind unter anderem Anastasius Grün, Ferdinand Freiligrath und Georg Herwegh. Vier Kapitel werden von Zitaten von Betty Paoli eingeleitet:

„Was er mir ist? O, frage Blumenkelche,
Was ihnen wohl der Thau, der sie besprengt?“

„Herz ward vom Herzen blutend losgerissen,
Und jetzt auf meinem Sterbelager muß
Ich Deines Anblicks süßen Trost vermissen.“

„An dem hellsten Sommertag,
Unter Zweigen lichtdurchbrochen,
Bei der Lerchen Jubelschlag
Hab‘ ich Dich zuerst gesprochen.“

„O heilge Stunde, wo in Gottes Strahl
Zwei Menschenherzen ineinander schauen.“

Mittwoch, 20. Mai 2009 von Karin S. Wozonig
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Betty Paoli und die Tarockpartie

Aus dem Tagebuch von Marie von Ebner-Eschenbach, 17. Mai 1891: „Nm bei Ida. Richard machte eine photographische Aufnahme der Tarok Partie bei Magnesium Licht.“

Montag, 18. Mai 2009 von Karin S. Wozonig
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Nestroy rules!

Zu meiner Freude wurde ein Text von mir in der Zeitschrift Nestroyana aufgenommen, die neue Nummer ist soeben erschienen. Ich schreibe immer gern über Betty Paoli, aber in diesem Fall war es mir ein besonderes Vergnügen. Nicht nur, weil ich das Thema  „Betty Paoli und die schönen Frauen“ (mit den schönen Frauen sind Schauspielerinnen gemeint) höchst interessant finde, sondern auch wegen der Vorgeschichte des Texts, der auf einem Vortrag bei den Nestroy-Gesprächen in Schwechat basiert. Diese traditionsreiche Veranstaltung wird mir als eine  besondere wissenschaftliche Konferenz in Erinnerung bleiben; wegen des Veranstaltungsorts (Schloss), der Unterbringung (mitten in einem idyllischen Park) und der großartigen Verpflegung (ja, ja, die österreichische Küche). Und vor allem wegen der Atmosphäre des Wohlwollens, in der sich die Wissenschaftler(innen) begegneten, produktive Kritik eingeschlossen.

Vielleicht schärft die Beschäftigung mit Nestroy, dem geistreichen Beobachter von Standesdünkel und Profilierungssucht, die Aufmerksamkeit für unnötiges akademisches Imponiergehabe und macht davor gefeit, vielleicht liegt es am genius loci – wie dem auch sei: An dieser Stelle einen herzlichen Dank an Jürgen Hein und an die Schriftleitung der Nestroyana, Ulrike Tanzer und W. E. Yates.