Eines Morgens
Ans Fenster rückt‘ ich meinen Tisch
Und wollte weise Dinge schreiben,
Doch, eh‘ ichs dachte, sah ich frisch
Mein Blatt im Morgenwinde treiben.
Was liegt an einem Blatt Papier?
Leicht ist’s ein zweites zu bereiten!
Nun aber ließ die Sonne mir
Streiflichter blendend drüber gleiten.
Wie flogen sie so lustig hell
Die Pfeile von dem gold’nen Bogen!
Gleich einem Schilde ließ ich schnell
Den grünen Vorhang niederwogen.
Jetzt, meint‘ ich, jetzt wird Ruhe sein!
Des Fleißes ernste Zeit beginne!
So dacht‘ ich, still vergnügt, allein
Bald ward ich meines Irrthums inne.
Denn schmeichelnd und verlockend drang
Durch Blättergrün und grünen Schleier
Der Vögel Lied wie Festgesang,
Wie eine freud’ge Liebesfeier.
Was half es mir, daß ich mein Ohr
Vom Lauschen suchte zu entwöhnen?
Im Geiste hörte ich den Chor
Der süßen Stimmen doch ertönen.
Vergeblich sorgt‘ ich, daß sich nicht
Der Sonne Schimmer zu mir stehle;
Das ich von mir gebannt, das Licht,
Ich schaut‘ es doch in meiner Seele.
Da warf ich meine Feder hin!
Nicht länger konnt‘ ich widerstreben,
Gefangen war mir Herz und Sinn –
Ich mußte mich dem Lenz ergeben.
Aus meinem Hause trieb mich’s fort
Auf waldgekrönte Bergeshöhen,
Wo, wie ein mildes Segenswort,
Die ahnungsvollen Lüfte wehen.
Den heil’gen Stimmen horchend, saß
Ich dort bis spät zum Abendlichte,
Und meine trunk’ne Seele las
In Gottes ewigem Gedichte!
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 1850